Kirchenpräsident i.R. Dr. h.c. Christian Schad, Präsidenten des Evangelischen Bundes, bezieht Stellung u.a. zu Fragen, was heute eigentlich “evangelisch” bedeutet und wie er die derzeitigen ökumenischen Dialoge einschätzt. Das Interview führten Elisabeth Engler-Starck und Hans Genthe.

Was bedeutet für Sie, evangelisch zu sein?
Evangelisch zu sein, bedeutet zunächst im Wortsinn: das Evangelium von Jesus Christus,
wie es in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments bezeugt ist, mit Wort und Tat zu
bekennen. Dazu gehört immer auch, dass wir dies nicht nur in unserer eigenen Kirche, in
unserer eigenen Konfession, ernst- und wahrnehmen, sondern Evangelizität auch in
anderen Kirchen und Konfessionen erkennen und anerkennen. Als Evangelische Kirche und
in ihr als Evangelischer Bund wollen wir das Evangelium aufgrund der in der Reformation
gewonnenen Einsichten für Kirche und Gesellschaft zur Geltung bringen. Und zwar so,
dass wir dabei nicht der Versuchung erliegen, durch Abgrenzung und Negation des
anderen das eigene Profil zu schärfen. Wir uns vielmehr – im Sinne einer Ökumene der
Gaben und der wechselseitigen Begabungen – am eigenen Reichtum und am Reichtum
anderer freuen, um uns wechselseitig zu ergänzen. In diesem Sinn bringen wir die Stärken
unserer Evangelischen Kirche in das ökumenische Miteinander ein, also z.B. die
gemeinsame Verantwortung aller Getauften, die die Reformation als das allgemeine
Priestertum der Gläubigen beschrieben hat, der Respekt vor der Urteilsfähigkeit der
Gemeinden und als Folge daraus die presbyterial-synodale Leitungsstruktur, der gleiche
Zugang von Frauen zum geistlichen Amt oder auch die Einsicht in die Fehlbarkeit
des kirchlichen Lehramts.

Worin sehen Sie gegenwärtig die größten Herausforderungen im ökumenischen Gespräch?
Dass wir den verschiedenen konfessionellen Entfaltungen des Evangeliums von Jesus
Christus Raum geben. Gerade im Blick auf das gemeinsame Zentrum unseres christlichen
Glaubens können unterschiedliche Ausgestaltungen gewürdigt werden, ohne dass es zu
Trennungen und Abgrenzungen kommen muss, im Gegenteil! Diese Ausgestaltungen
sind Ausdruck der „bunten Gnade Gottes“ (1. Petrus 4,10). Nicht Auflösung der
konfessionellen Profile, auch nicht dies, sich selbst unkenntlich zu machen, ist darum das
Ziel der Ökumene. Vielmehr soll deren trennender Charakter überwunden werden. Unsere
verschiedenen Traditionen müssen ihre Farbe also keineswegs verlieren, wenn wir
gemeinsam das eine Fundament sichtbar machen, auf dem wir als Christinnen und
Christen stehen: „ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist
über allen und durch alle und in allen“ (Epheser 4,5f.). Nicht Differenzen an sich sind somit
das Problem. Sie werden allerdings zu einem solchen, wenn und insofern sie spalten. Was
wir deshalb brauchen, ist dies: dass wir Vielfalt und Einheit, Weite und Konzentration, neu
miteinander verbinden. Mithin zu mehr Sichtbarkeit in der Einheit und zu mehr Versöhnung
in der Verschiedenheit kommen. Das Ziel aller ökumenischer Bemühungen sehe ich deshalb
in der sichtbaren Einheit der Kirche Jesu Christi als vielfältig gestalteter Gemeinschaft
unter dem einen Herrn, die in einem Glauben Gottesdienst feiert, sich an seinem Tisch
versammelt und aus dieser Quelle heraus ihre Weltverantwortung wahrnimmt.

Sie haben vor wenigen Wochen im Vatikan auf höchster Ebene ökumenische Gespräche
geführt, u.a. mit Kardinal Ladaria, dem Präfekten der Glaubenskongregation, und mit
Kardinal Koch, dem Präsidenten des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der
Christen. Was haben sie beiden mit auf den Weg gegeben?
Im Zentrum meiner Gespräche stand das Votum des Ökumenischen Arbeitskreises
evangelischer und katholischer Theologen aus dem Jahr 2020 mit dem Titel: „Gemeinsam
am Tisch des Herrn“. Hier ist im Blick auf das Herrenmahl ein ökumenisches
Grundeinverständnis formuliert, das den Begründungsrahmen abgeben will für die
individuelle Gewissensentscheidung einzelner Glaubender, wechselseitig zur Eucharistie
bzw. zum Abendmahl hinzuzutreten. Es geht hier also nicht um Interkommunion oder gar
Interzelebration, sondern um eine eucharistische Öffnung als Ausdruck schon bestehender
Kirchengemeinschaft, die dynamisch auf die volle Kirchen- und Gottesdienstgemeinschaft
hinzielt. Jenseits einer Alles-oder-nichts-Position plädiert das Votum für einen ersten,
vorsichtigen Schritt, nämlich für eucharistische Gastfreundschaft bzw. Gastbereitschaft
im gegenseitigen Respekt vor den je anderen Traditionen und Feierformen. Würde diese
Öffnung auch von römisch-katholischer Seite legitimiert, wäre in Deutschland, das versuchte
ich in Rom zu vermitteln, nicht mit einem exorbitanten Anstieg der Kommunikanten bei der
Abendmahls- bzw. Eucharistiefeier zu rechnen. Diesbezüglich sei der ökumenische Zenit
längst überschritten. Vielmehr seien es v.a.konfessionsverbindende Paare und Familien und
die, die in beiden Konfessionen „mit Ernst“ Christen und darum ökumenisch engagiert
seien und sich darüber hinaus an kirchenleitende Vorgaben hielten, für die diese Öffnung
ein wichtiger Schritt bedeute: nämlich guten Gewissens an den Herrenmahlsfeiern der je
anderen Konfession teilzunehmen. Einer qualifizierten Minderheit in unseren beiden Kirchen
käme man hiermit entgegen.
Ein Zweites versuchte ich deutlich zu machen: Was uns derzeit evangelisch-katholisch noch
miteinander verbindet, ist dies, dass wir theologisch verantwortet Ökumene betreiben wollen.
Konkret: der Methode des differenzierten Konsenses nach wie vor verpflichtet sind, indem
wir, ausgehend von einem gemeinsamen theologischen Grundeinverständnis, fragen, ob
bleibende Unterschiede heute noch kirchentrennend seien oder nicht. Wenn allerdings nach
auf diesem Weg erreichten Konsensen bzw. Konvergenzen daraus nie praktische Schritte
der wechselseitigen Öffnung erfolgen, weil die theologische Latte gewissermaßen
immer noch höher gelegt werde, dann, so meine Befürchtung, könnte auf Dauer die Methode
selbst in Frage gestellt und ökumenische Verständigung, wenn überhaupt, auf anderem als
auf theologisch verantwortetem Weg gesucht werden. Schon deswegen plädierte ich in Rom
dafür, dem Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ auch kirchenleitend zu entsprechen.

Unsere Gesellschaft wird auch religiös immer pluraler. Wie beurteilen Sie die Chancen des
interreligiösen Dialogs?
Ja, wir leben in einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft. Für die friedliche
Gestaltung unseres Alltags sind Begegnungen und ehrliche Verständigungen, der Respekt
vor dem Anderssein des anderen und die Achtung des von mir Verschiedenen
entscheidende Voraussetzungen. Freilich, ein ernsthaftes interreligiöses Gespräch wird
unmöglich, sofern das Selbstverständnis und die Wahrheitsansprüche der Partner
ausgeklammert werden. Erst im Dialog der Wahrheitsgewissheiten, erst im wechselseitigen
Offenlegen der religiösen Grundüberzeugungen und handlungsleitenden
Basisorientierungen kommt es zur wirklichen Begegnung unterschiedlicher religiöser
Identitäten. Denn anerkennen und achten kann ich doch immer nur das mir bekannte
Fremde. Das unbekannte Fremde bleibt bedrohlich und ist oft die Ursache für ein Zerrbild
des anderen. Deshalb gehört das Zeugnis darüber, was uns etwa als Christen und Muslime
im Innersten bestimmt, zum interreligiösen Dialog hinzu. Nur so sind ein gegenseitiges
Verstehen und ein Verständnis füreinander möglich, auch wenn dies u.U. die Unterschiede
stärker hervortreten lässt als die Gemeinsamkeiten. Worauf es m.E. ankommt, ist also eine
Kultur der Differenz. Denn Dialog heißt nicht, sich auf ethische Minimalkonsense der
Religionen zu beschränken, sondern mit der offengelegten Vielfalt unterschiedlicher
religiöser Geltungsansprüche konstruktiv und das heißt zivilisiert und friedvoll umgehen zu
lernen. Dies beinhaltet eine Haltung des wechselseitigen Respekts, die die eigene
Glaubensgewissheit nicht relativiert oder zurücknimmt und die Ernsthaftigkeit anderer
religiöser Überzeugungen nicht in Frage stellt. So können gerade die Erfahrungen im
innerchristlich-ökumenischen Gespräch dem interreligiösen Dialog dienen.

Worin sehen Sie in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und kirchlichen Lage die Aufgaben
des Evangelischen Bundes?
„Den Nächsten kennen wie sich selbst“, dieses Leitwort des Evangelischen Bundes und
seines Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim ist in einer immer pluraler werdenden
Gesellschaft aktueller denn je. Konkret bedeutet das: der anderen Konfession, auch der
anderen Religion, mit Achtung zu begegnen. Andere gerade in ihrem Anderssein
wahrzunehmen, mithin zu versuchen, sie in ihrer Eigenart zu verstehen, um konstruktiv mit
Verschiedenheit umzugehen und im Dialog mit ihnen unser Evangelisch-Sein unaufdringlich,
aber bestimmt zur Geltung zu bringen: „sine vi, sed verbo“, „ohne Gewalt, sondern durch das
überzeugende Wort“, wie Philipp Melanchthon das im 28. Artikel des Augsburgischen
Bekenntnisses von 1530 formuliert hat. Ein Begriffspaar ist mir in diesem Zusammenhang
wesentlich, nämlich „Identität und Verständigung“, übrigens 1994 der Titel einer EKD-
Denkschrift. Während Unwissenheit und Indifferenz ein wirkliches Miteinander mit anderen
verunmöglichen, ist das Wissen um die eigene Herkunft und Identität, auch die Fähigkeit,
sich entsprechend positionieren zu können, Voraussetzung einer echten Verständigung in
unserer zunehmend multikulturell und multireligiös bestimmten Gesellschaft. Hier genau
sehe ich die Aufgabe des Evangelischen Bundes heute: miteinander die biblische Tradition
und das reformatorische Erbe wach zu halten, verstehbar und aktuell aussagbar zu machen
und als Auftrag zu begreifen, auf dieser Basis weiter nach der Einheit der Kirchen in
versöhnter Vielfalt zu suchen. Also evangelisch und ökumenisch zugleich zu sein und dabei
die Begegnung und den lebendigen Austausch untereinander und mit anderen immer neu
zu ermöglichen und zu pflegen.

Wie bestimmen Sie das Verhältnis des Evangelischen Bundes zur verfassten Kirche?
Der Evangelische Bund ist das Konfessionskundliche und Ökumenische Arbeitswerk der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und als solches Träger des
Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim. Insofern verstehe ich den Evangelischen Bund
und sein Konfessionskundliches Institut als Dienstleister innerhalb der und für die
Evangelische Kirche, denen es speziell darum geht, die konfessionskundlichen und
ökumenischen Kompetenzen auf den unterschiedlichen kirchlichen Ebenen zu stärken und
Konfessionssensibilität zu fördern. So wird etwa im Bensheimer Institut wissenschaftliche
Expertise in Bezug auf die Entwicklung der Ökumene und die unterschiedlichen
Konfessionen erarbeitet, die durch eigene Forschung in den akademischen Diskurs
eingebracht wird. Zugleich hilft das Konfessionskundliche Institut durch Tagungen,
Fortbildungskurse etc. beim Aufbau entsprechender Fähigkeiten. Schließlich berät es
Kirchen, Kirchenbezirke und -gemeinden im Hinblick auf ökumenische und
konfessionskundliche Fragestellungen. Der Evangelische Bund trägt mit seinen Aktivitäten
auf landeskirchlicher Ebene nun seinerseits dazu bei, die Ergebnisse der Arbeit des
Konfessionskundlichen Instituts einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Zunehmend wichtig ist mir hier auch die Förderung des theologischen Nachwuchses, zumal
ökumenische und konfessionskundliche Themen in der universitären Ausbildung oft nur am
Rand bearbeitet werden. So ist der Evangelische Bund innerhalb unserer Kirche ein
ausgezeichneter Ort, an dem wir unseren Glauben gemeinschaftlich leben und reflektieren
können.

Ansprechpartner

Dominik Koy
Referent für Publizistik und konfessionsübergreifende Fragen

Telefon

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