Am 13. und 14. März 2015 fand in Marburg das 4. Symposium der Forschungsstelle „Neupietismus“ der Evangelischen Hochschule Tabor zum Thema „Pietismus – Neupietismus – Evangelikalismus“ statt, auf dem mit hochrangiger Referent/innenbesetzung der Frage nach einer evangelikalen oder neupietistischen Identität nachgegangen wurde. Besonders die theologiegeschichtlichen Frömmigkeitsströmungen und Gruppen, die vom Evangelikalismus beerbt werden, standen zur Debatte. In der Tagungsankündigung hieß es: „Vor allem wird diskutiert, inwiefern man eine direkte Traditionslinie von Pietismus, Erweckungsbewegung und Gemeinschaftsbewegung zum Evangelikalismus ziehen kann, welche Rolle die Abgrenzung von den evangelischen Landeskirchen dabei spielte, und wie der Kulturwandel der 1960er und 1970er Jahre damit verbunden war. Dabei ist offensichtlich, dass die Kontinuität zu vorangegangenen Bewegungen keineswegs bruchlos war, was z. B. allein schon an der Vielfalt der Selbstbezeichnungen und der damit verbundenen Unsicherheiten deutlich wird. Bisher ist völlig ungeklärt, wie in den letzten 150 Jahren mit den Begriffen ‚pietistisch‘, ‚altpietistisch‘, ‚neupietistisch‘ oder später ‚evangelikal‘ als Selbstbezeichnungen oder Fremdzuschreibungen bewusst Identitäten konstruiert bzw. Abgrenzungen vorgenommen worden sind.“

Eröffnet wurde die Tagung durch Referate des Kirchenhistorikers Frank Lüdke und des Systematischen Theologen Thorsten Dietz, beide Professoren an der Evangelischen Hochschule Tabor, die mit ihren Referaten „Neupietismus – Eine begriffliche Spurensuche“ und „Der Neupietismus und die Positiven“ in medias res der Fragestellung nach der terminologischen Verankerung und den historischen Vorläufern des Neupietismus gingen. Dem schlossen sich die Nachmittagsvorträge des Siegener Promovenden Matthias Plaga-Verse über „Die Siegerländer Gemeinschaftsbewegung zwischen Pietismus und Neupietismus“ sowie der Ostkirchenreferentin am Konfessionskundlichen Institut Gisa Bauer über „Die evangelikale Bewegung in Deutschland – und Reaktionen auf ihre Erforschung“ an. Bauer untersuchte in ihrem Beitrag neun Rezensionen zu ihrer Habilitationsschrift „Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989)“ von 2012 im Hinblick auf Bewertungen und Einschätzungen der theologiegeschichtlichen Verankerung, der internationalen Einbindung und der Identität der evangelikalen Bewegung.

Der öffentliche Abendvortrag „,Warum ich nicht mehr glaube!‘ Einsichten aus evangelikalen Dekonversionserfahrungen“ von Tobias Faix und Tobias Künkler vom Marburger Bildungs- und Studienzentrum basierte auf einer Studie, bei der über 350 Christinnen und Christen zu ihrer veränderten Einstellung zum Glauben befragt wurden und aus den Interviews acht wesentliche, sich im Kern wiederholende Erfahrungen und Motive zu dem individuellen Ausstieg aus einem Glaubensleben eruiert wurden. Die Ergebnisse sind in dem Buch „Warum ich nicht mehr glaube. Wenn junge Erwachsene ihren Glauben verlieren“ von Tobias Faix, Martin Hofmann und Tobias Künkler (Holzgerlingen 2014) zusammengefasst.

Den Auftakt der Referate am nächsten Tag bildete der Vortrag des Heidelberger Professors für die Geschichte des Christentums in den USA, Jan Stievermann, „The German Lives of David Brainerd: Jonathan Edwards’s Biography and the German Pietist Construction of a Protestant History of World Mission”. Stievermann zeigte exemplarisch die enge Vernetzung der pietistisch-erwecklichen Kreise auf deutschem und nordamerikanischem Gebiet auf. Anschließend ging Anja-Maria Bassimir, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG- Forschungsprojekt „Un/Doing Differences: Praktiken der Humandifferenzierung“ in Mainz mit ihrem Beitrag „,Who do they say they are?‘ Evangelical Self-Perception and the (Re)Invention of an Old Tradition in the USA“ den evangelikalen Selbstbildern in verschiedenen US-amerikanischen Zeitschriften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. An Bassimirs Ausführungen schloss sich der Vortrag „A British Perspective on Evangelicalism” von David Bebbington an, Profossor für Geschichte an der University of Stirling in Schottland. Der renommierte britische Evangelikalismusforscher ging in seinem Beitrag u.a. auf die von ihm bereits 1989 konstatierten vier Definitionsmarker für Evangelikalismus ein: biblicism, crucicentrism, conversionism, activism. Ebenfalls einen Definitionsansatz nach phänomenologisch-theologischen Gesichtspunkten – auch inhaltlich im Anschluss an Bebbington – bot Wolfgang Reinhardts Vortrag „Evangelicalism and Pietism – Definitions and Relationships in Diachronic, Synchronic and Global Perspective”. Am Nachmittag referierten Erich Geldbach, emeritierter Professor für Konfessionskunde und Ökumenik in Bochum und von 1981 bis 1997 Mitarbeiter des Konfessionskundlichen Instituts, mit dem provokativen Titel „Sind Baptisten Evangelikale?“ sowie die Professorin an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, die Kirchenhistorikerin Ulrike Treusch, zum Thema „Der deutsche CVJM im 20. Jh.: Umstrittene Identität – erwecklich, neupietistisch oder einfach missionarisch?“

Wie die Referatsthemen erahnen lassen, zeigte die Tagung anschaulich die pluralen Ansätze evangelikaler Identitätsbestimmung sowie die verschiedenen methodischen Zugriffe, die mit einer Vielzahl weiterer Untersuchungen erforscht werden sollen und die im Hinblick auf fundierte Aussagen der historischen Herleitung der evangelikalen Bewegung ausgebaut werden müssen.

Allerdings wurde die Wissenschaftlichkeit der Tagung sofort überschattet, da tags darauf, am 15. März 2015, der Nachrichtendienst idea e.V. in seinem Pressespiegel Nr. 074 unter der Überschrift „Was manche Baptisten von Evangelikalen unterscheidet. Symposium ,Pietismus, Neupietismus, Evangelikalismus‘ in Marburg“ zu der Tagung Stellung nahm. Wie dieser Titel bereits deutlich macht, war die Berichterstattung auf den Vortrag von Erich Geldbach fokussiert, der u.a. mit seiner Kritik am Fundamentalismus unter dem Deckmantel von Evangelikalismus und an der Weltweiten Evangelischen Allianz und deren Glaubensbasis ausführlich zitiert wurde. Der größte Teil der Referate der fruchtbaren Tagung wurde nicht einmal erwähnt und die spannenden Diskussionen um die Frage nach einer differenzierten Wahrnehmung evangelikaler Traditionslinien blieben unbeachtet. Am 21. März wandte sich Thomas Schirrmacher, Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz, in einem offenen Brief, der auf der Homepage des von ihm gegründeten Martin-Bucer-Seminars veröffentlicht ist, an Geldbach. Schirrmacher betonte darin die Homogenität der Weltweiten Evangelischen Allianz im Gegensatz zum ÖRK und forderte von Geldbach, dem er persönliche Angriffe, das Stehenbleiben „im Vorraum der Verurteilung“ sowie die Zugrundelegung eines „völlig veralteten Sachstand[es]“ vorwarf, auf die Einheit der Christen, nicht auf ihre Trennung zuzuarbeiten sowie sich „in die theologische Gesprächskultur des 21. Jahrhunderts ein[zuklinken]“.

Diese auf die Tagung folgenden Verwerfungen exemplifizieren deutlich, dass mit der Frage der inhaltlichen Definition von Evangelikalismus immer auch die Frage nach der Deutungshoheit evangelikaler Identität einhergeht. Oder, zugespitzt gesagt: Identität ist immer auch eine Frage der Macht: Wer deutet was wie. Im evangelikalen Bereich sind, wie das Beispiel illustriert, einerseits eine Tendenz zur Homogenisierung zu beobachten und andererseits die Tendenz, Pluralisierung zuzulassen und Fragen zu stellen, die offen sind, auch wenn sie in dieselbe Richtung gehen. Die Betonung der Selbstbezeichnung „Neupietisten“ in Abgrenzung zu „evangelikal“ an der Hochschule Tabor ist dabei ein zwar kleinteiliges, aber signifikantes Element pluraler evangelikaler Identitätskonstruktionen. Es ist zu vermuten, dass evangelikale Identitätsdeutungen, besonders im Hinblick auf die historische Rückführung, zukünftig immer stärker von verschiedenen Gruppen und Strömungen in diesem Lager vorgenommen werden und es demzufolge nicht mehr bei einer „evangelikalen Identität“ bleiben wird, auch wenn genau das von verschiedenen evangelikalen Gruppen versucht wird zu vermeiden. Für die konfessionskundliche Außenwahrnehmung zeichnet sich mit der Pluralisierung der evangelikalen Bewegung ein ungemein interessantes Bild ab. Es stellt sich z. B. die ganz grundsätzliche Frage, ob es soziologische Gesetzmäßigkeiten der Moderne, Postmoderne und Post-Postmoderne gibt, die jede gesellschaftliche Bewegung und Frömmigkeitsströmung pluralisieren und sie dann nur an aktuellen, d. h. im Moment geschlechter- und sexualethischen Themen zusammenführen. Oder ob es Möglichkeiten gibt, die Pluralisierung mit einer historischen Rückbesinnung aufzufangen. Weiterhin kristallisiert sich immer deutlicher das Problem heraus, welche bislang undenkbaren interkonfessionellen und vermutlich auch interreligiösen Koalitionen die pluralisierte evangelikale Bewegung, d. h. die ihr zuzurechnenden Gruppen, eingehen wird bzw. werden. Immerhin fragen einzelne Gruppen der evangelikalen Bewegung nach ihrer Tradition, nach ihren historischen Vorläufern und beginnen damit ihre Identität auch über Geschichte zu stabilisieren. Wird diese historiografische Identität als Sonderweg der Volkskirche oder in offener Abgrenzung zu ihr verstanden werden? Die Antwort auf diese Frage, die vor allem in der Hand evangelikaler Forscherinnen und Forscher liegt, wird u. a. nicht zu unterschätzende Folgen für das evangelikale Verhältnis zu den traditionellen Kirchen und zur Theologie haben.

Gisa Bauer, wiss. Referentin für Ostkirchen am Konfessionskundlichen Institut