Am 24. und 25. April 2021 fand die diesjährige Tagung des Vereins für Freikirchenforschung statt – online, selbstredend. Durchgeführt wurde in modifizierter Form, was schon für das letzte Jahr geplant gewesen war. Der Titel hieß nun: „Gemeinschaft der Gleichen oder hierarchische Struktur? Erfahrungen von Ohnmacht und Vollmacht in Freikirchen“. Vor einem Jahr waren die technischen Voraussetzungen für eine online-Tagung so wenig gegeben, dass man das für Marburg geplante physische Treffen nur schlicht absagen konnte. Diesmal war es problemlos möglich, die für Erzhausen „offline“ projektierte Tagung wenige Wochen vor dem Ereignis ins Digitale zu verlagern, weil die Corona-Inzidenz-Zahlen nichts anderes zuließen.
Weit über 50 Menschen nahmen teil. Dazu gehörten die Nestores der deutschen Freikirchenforschung einschließlich des ehemaligen Mitarbeiters des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (KI) Prof. Dr. Erich Geldbach, aber auch Studierende des jetzigen KI-Freikirchenreferenten Dr. Lothar Triebel. Auch aus England und Kanada waren Personen zugeschaltet.
Als Glücksgriff erwies sich, dass das Eingangsreferat nicht, wie für 2020 geplant, dem Thema „Macht und Ohnmacht in philosophischer und theologischer Perspektive“ gewidmet war. Vielmehr wurde zum Auftakt von der ursprünglich aus der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) stammenden Heidelberger Privatdozentin Dr. Heidrun Mader „Verständnis von Amt und Macht im NT“ bearbeitet. Bei konzentrierter historisch-kritischer und philologisch orientierter Vortragsweise gab sie der Tagung quasi nebenbei auch ein kirchenpolitisches Thema mit: Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern auch in Bezug auf kirchliche Ämter – bekanntlich längst nicht in allen (Frei-)Kirchen gängige Praxis.
Der Sozialethiker Dr. Ralf Dziewas, Professor an der Theologischen Hochschule Elstal des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG), zeigte in seinem Vortrag „Machtstrukturen in kongregationalistischen Gemeinden und Gemeindebünden“ auf, dass das Lebensgefühl und die Erwartungshaltung der 1968 und der von 68ern geprägten Generationen in Bezug auf Machtausübung von den heute jüngeren Generationen auch in christlichen Gemeinden nicht uneingeschränkt geteilt wird. Sind die jetzt schon Älteren sehr stark an demokratischen Strukturen, Diskussion und Machtteilung interessiert, ist es vielen Jüngeren durchaus recht, wenn jemand „das Sagen hat“.
„In der Macht seiner Stärke. Charisma und Amt aus pfingstkirchlicher Perspektive“ hieß das Referat von Prof. Dr. Wolfgang Vondey, Birmingham. Schonungslos wies er theologische Defizite in den Pfingstkirchen nach und zeigte gleichzeitig auf, welch hohes Potential in pfingstlich geprägter Spiritualität für dieses Thema steckt.
Eher auf der Linie des von Dziewas Gesagten wurde von Teilnehmern das rezipiert, was anschließend der Karlsruher ICF-Pastor Steffen Beck, frisch ernannter Leiter von ICF Deutschland, über „Leiterschafts-Konzepte und Leiterschafts-Standards in der deutschen ICF-Bewegung“ berichtete. Demokratie spielt hier keine Rolle. Beck nahm für die Art, wie hier Macht in Anspruch genommen, zugeordnet und akzeptiert wird, u.a. den Begriff „Gottes Schöpfungsordnung“ in Anspruch.
Die nächsten beiden Abschnitte der Tagung widmeten sich dann unmittelbar aktuellen kirchlichen bzw. kirchenpolitischen Themen. Zunächst diskutierten auf einem virtuellen Podium BEFG-Generalsekretär Christoph Stiba, Frank Uphoff, Vizepräses des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden, die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden Doris Hege, der Pastor des Bundes Freier evangelischer Gemeinden Christoph Lenzen und Tobias Beißwenger, Superintendent in der Evangelisch-methodistischen Kirche, unter Moderation von Dr. Astrid Nachtigall (BEFG) über das Thema „Gemeinde leben am Bildschirm? (Frei-)Kirchen in digitalen Zeiten“. Das eigentliche Thema der Tagung spielte in dieser Diskussion erstaunlicherweise kaum eine Rolle, obwohl Macht, Machtmissbrauch und Ohnmacht auch im WWW keine unbekannten Größen sind.
Anschließend zog Stiba seinen Hut als Präsident der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) auf und sprach nach einleitendem Vortrag mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Tagung über die Frage „Quo vadis VEF?“ Stiba erläuterte, dass der gleichnamig überschriebene Prozess der VEF von 2017 noch nicht am Ende ist: „Will die VEF eine Vereinigung im Sinne eines Netzwerkes sein oder will sie mehr sein? Und wenn sie mehr sein will, wie soll dieses ‚mehr‘ dann aussehen?“ Noch gebe es viele Doppelstrukturen, andererseits würden die Mitgliedskirchen noch nicht genug Ressourcen für die ehren- und hauptamtliche Arbeit der VEF zur Verfügung stellen.
Der Samstagabend gehörte, wie bei VFF-Tagungen üblich, einem Nachwuchswissenschaftler: Fabian Bromann ließ die Tagungsteilnehmer*innen teilhaben an seinen Erkenntnissen zu „C.H. Spurgeons Verhältnis zur Britischen Evangelischen Allianz“. Dieses Verhältnis war u.a. geprägt von Verletzung und Vergebung, Macht und Machtverzicht, und so passte sich der Vortrag gut ins Tagungsthema ein.
Beinahe nahtlos schloss sich am nächsten Tag der Vortrag von Prof. Dr. Gilberto da Silva, der an der Hochschule der SELK lehrt, an, insofern er ebenfalls über einen Theologen seiner Konfession im 19. Jahrhundert sprach: „August Vilmars Amtstheologie: Ohnmacht und Vollmacht des Evangeliums“. Weil Vilmars Theologie in Teilen der SELK und partiell in ihrer Verfassungsstruktur bis heute wirkmächtig ist, schimmerte auch in diesem Beitrag aktuelle Kirchenpolitik durch.
Genauso nahe an der Gegenwart war der zunächst ebenfalls historisch angelegte Bericht des Journalisten und Buchautors Markus Baum „Große Fallhöhe, hohe Ideale. Das Entscheidungs- und Leitungsmodell der Bruderhof-Gemeinschaften und seine Entwicklung“. Aus langjähriger persönlicher Erfahrung sowie intensiven Archivstudien heraus konnte er zeigen, wie hier zutiefst Christliches realisiert wurde und wird – und wie es bisweilen, mit z.T. erheblichen Verletzungen, auch nicht funktioniert(e).
Folgerichtig setzte ein Psychotherapeut und Psychiater den Schlusspunkt der Tagung: „Ohnmacht, Macht, Machtmissbrauch. Grenzüberschreitungen in der Gemeinde aus psychologischer Sicht“ hieß der Vortrag von Dr. Martin Grabe, Ärztlicher Direktor der Klinik Hohe Mark, Oberursel. Er berichtete einerseits aus langjähriger Erfahrung mit Patient*innen aus landes- und freikirchlichen Gemeinden mit verschiedensten Krankheitsbildern im Kontext von Machtmissbrauch. Andererseits zeigte er unter dem Begriff „dienendes Leiten“ auf, wie durch Umkehr der Machtpyramide gesunde, vielleicht sogar heilvolle Strukturen möglich sind.