Die Kammer für Weltweite Ökumene der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat Mitte September 2021 eine Orientierungshilfe vorgelegt, die einem wichtigen und wohl immer wichtiger werdenden Thema gewidmet ist: Der Pfingstbewegung und der sogenannten Charismatisierung. Diese Orientierungshilfe war Gegenstand eines hybrid gestalteten Studientages am 17. September 2021, an dem ca. 85 Personen, darunter Dutzende Fachleute aus der Ökumene und zahlreiche weitere Interessierte, teilnahmen, sei es vor Ort in der Katholischen Akademie in Hamburg, sei es zuhause am Bildschirm.
Gleich zu Beginn verdeutlichte die Vorsitzende der Kammer, Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, die Relevanz des Themas mit der Prognose: „Die Zukunft des Christentums wird charismatisch sein“. Denn das Thema, so Link-Wieczoreck, ist weltweit aktuell; Gemeindeneugründungen und Migrationsgemeinden hierzulande sowie die Entwicklungen in Partnerkirchen in aller Welt lassen auch für die EKD pfingstliche und charismatische Gemeinden zu einem ernstzunehmenden Partner im ökumenischen Dialog werden. Daher erging 2016 der Auftrag an die Kammer, sich des komplexen Themas anzunehmen. Wie wichtig das Thema ist und in wie viele ökumenische und konfessionskundliche Arbeitsbereiche es hineinreicht, zeigte sich auch darin, dass am Studientag ausnahmsweise nicht nur ein*e Mitarbeiter*in, sondern mehrere haupt- und nebenamtliche Referent*innen des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim teilnahmen, online zugeschaltet aus verschiedenen Regionen Deutschlands.
Die Orientierungshilfe beabsichtigt, so die Vorsitzende, ein „eye-opener“ zu sein, an das Thema heranzuführen und eine Basis für den Dialog zu schaffen. Dabei kommen in der Orientierungshilfe vielfache Herausforderungen zur Sprache, die Prof. Dr. Claudia Jahnel, die Vorsitzende der AG Pfingstbewegung der Kammer, in ihrer Einleitung kurz anriss: Die deutsche akademische Theologie trifft in der Pfingstbewegung oftmals auf eine ihr fremde Art Theologie zu treiben. Die Vielfalt der Pfingstkirchen und charismatischen Gemeinden ist immens und schwer zu fassen. Hinzu kommen interkulturelle Herausforderungen und die Frage nach politischer und ethischer Einflussnahme der Pfingstbewegung.
Bei all diesen Themen ist die Grundausrichtung der Orientierungshilfe stets eine ökumenische: Die Kammer hat ihren Text nicht aus einer Außenperspektive geschrieben, so Jahnel, sondern das direkte Gespräch mit Pfingstkirchlern und Charismatikern gesucht, um das Thema dialogisch und im Austausch zu fassen. Diese Absicht zeigte sich auch am Studientag: Auf mehreren Podien, die sich an den einzelnen Kapiteln der Schrift orientierten, diskutierten jeweils ein/e Vertreter/in aus dem pfingstlichen Bereich mit einer/m aus einer traditionellen Konfessionskirche.
So kam in einem ersten Podium Pastor Frank Uphoff, Vizepräses des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden und Gemeindepastor in Velbert, mit Prof. Dr. Magali Do Nascimento Cunha vom Institute of Religious Studies in Rio de Janeiro über „Das globale Phänomen der Pfingstbewegung“ ins Gespräch. Dieses Podium war thematisch dem zweiten Kapitel der Orientierungshilfe zugeordnet. Mit der Auswahl der Referenten war je eine Stimme aus der weltweiten Kirche wie auch aus Deutschland präsent. Uphoff verwies in seinem Impuls mehrfach auf die große Heterogenität der Pfingstbewegung: Auch wenn überall viel Wert auf die Erfahrung des Wirkens des Geistes gelegt wird, in allen Gemeinden das „missionarische Anliegen brennt“ und das Bibelstudium und die Wortverkündigung zentral sind, so ist das Erscheinungsbild der Gemeinden doch stark kulturell geprägt und sehr divers. Auch die großen Zusammenschlüsse wie „World Assemblies of God fellowship“, „Pentecostal World Fellowship“ oder „Empowered 21“ beherbergen eine plurale Schar an Gemeinden. Diesen Eindruck teilte auch Magali Cunha, die auf die starke Prägung des römisch-katholischen Erbes und die Omnipräsenz religiöser Themen in Brasilien einging und daraufhin sorgfältig zwischen klassischen Pfingstkirchen und einem „Neopentecostalism“ unterschied, bei dem die Themen Heilung, Exorzismus und Wohlstand („prosperity“) einen hohen Stellenwert haben. Die Vielfalt sei in alledem enorm: Von kleinen ländlichen Gemeinden bis hin zu „Mega Churches“ mit Zehntausenden von Mitgliedern oder auch Gemeinden, die vor allem im digitalen Raum existierten („Mediatic Churches“), kommt alles vor. Gemeinsam ist den meisten, dass sie eng mit der Kultur und dem alltäglichen Leben der Menschen verbunden sind und alltagsnahe Themen aufgreifen. Durch eine ausgeprägte soziale Aktivität gelingt es oftmals, Minderheiten zu integrieren und Menschen ein soziales Netz zu schaffen, in dem sich viele wahr- und ernstgenommen fühlen. Mit einer politisch konservativen Perspektive haben manche Gemeinden einen großen Einfluss auf die Gesellschaft im Ganzen.
Das dritte Kapitel der Orientierungshilfe widmet sich den theologischen Herausforderungen. Im zweiten Podium des Studientages wurden diese von Pastor Dr. Bernhard Olpen als Vorsitzendem des Theologischen Ausschusses des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden und Prof. Dr. Dr. Michael Welker, emeritierter Professor für Systematische Theologie in Heidelberg, diskutiert. In seiner Hauptthese strich der als Historiker promovierte Olpen heraus, dass pentekostales Christentum im Wesentlichen keine neue Erscheinung sei: Eine pneumatische Orientierung sei tief im Christentum verankert; etliche Strömungen in der Geschichte des Christentums legten viel Wert auf eine Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung, und die Grundlagen der Pfingstbewegung seien durch und durch biblisch. Vielmehr aktualisiere und kontextualisiere sich das pfingstliche Christentum nur neu. Anders als die Mystik, die sich im Wesentlichen nach innen kehre, lebe die Pfingstbewegung ihre Ausdrucksform „nach außen“. Sie brächte die Fähigkeit zu einer Inkulturation mit und spräche so viele Menschen an. Auch Welker begrüßte die Orientierungshilfe und lobte insbesondere die in ihr enthaltene Warnung vor Pauschalisierungen. Gleichwohl formulierte er einige Anfragen an den Text: Die Entgegensetzung des erhöhten und des historischen Jesus, einer hohen und einer niedrigen Christologie hält er für unsäglich (vgl. Orientierungshilfe 63; 83). Zudem plädierte er dafür, das Geistgeschehen nicht als ein subjektives, individuelles Erleben zu betrachten, sondern als das Erleben einer ganzen Erfahrungsgemeinschaft. Der Geist schaffe ein ganzes Beziehungsgeflecht und könne nicht als bipolare Relation (Mensch-Gott, Gott-Mensch) verstanden werden. Gesprächsbedarf sieht Welker unter anderem bei den Themen Exorzismus und Dämonologie.
„Religion, Politik und Weltverantwortung“ war die Überschrift des dritten Podiums, das an das vierte Kapitel der Orientierungshilfe andockte. Der Moderator Prof. Dr. Dietrich Werner befragte die beiden Teilnehmenden, welchen Einfluss die rechts-konservative Ausrichtung etlicher pfingstlicher und charismatischer Gemeinden auf Politik und Gesellschaft habe. Er stellte die These einer Entwicklung von einer Art Weltflucht hin zu einer gezielten Wahrnehmung und Beeinflussung der Welt zur Debatte und bat Maraike Bangun vom Jakarta Theological Seminary und derzeit an der Missionsakademie in Hamburg sowie Prof. Dr. Andreas Heuser von der Universität Basel um ihre Einschätzung. Heuser beschrieb einen Wandel: von einer Fokussierung auf das Jenseits, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts anhielt, hin zur immer mehr Mitgestalten der Welt seit der Nachkriegszeit. Jedoch darf bei der Art dieser Mitgestaltung nicht pauschalisiert werden: Viele kleine wie große Gemeinden leisten eine enorme diakonische Arbeit. Problematisch wird es, wenn geistliche Leiter ihre Macht missbrauchen, auf ungute Weise politische Einflussnahme üben und ein naives dualistisches Weltbild zum Kampf gegen „das Böse“ führen, ohne die Gegenwart differenziert wahrzunehmen.
Der Studientag endete mit Praxisempfehlungen für den ökumenischen Weg: Hierzu kamen Dr. Verena Hammes, römisch-katholische Geschäftsführerin der Ökumenischen Centrale der ACK Deutschland, und der Schweizer Dr. Jean-Daniel Plüss von der European Pentecostal Charismatic Association ins Gespräch. Beide begrüßten, dass die Kammer mit den Partnern in einen Dialog getreten war, um die Schrift im Austausch zu erarbeiten. Hammes wünschte sich auch weiterhin einen Austausch von Schätzen aus den verschiedenen Traditionen und sieht hierfür in der ACK eine geeignete Plattform. Hammes und Plüss sehen in persönlichen Begegnungen und Besuchen Möglichkeiten, Vorurteile abzubauen und gemeinsam unterwegs zu sein. Neben all dem Lob wies Plüss jedoch auch darauf hin, dass in der Orientierungshilfe der Dialog pfingstkirchlicher Theologen mit der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen nicht erwähnt wurde. Zudem hätte er sich eine stärkere Einbeziehung von Vertreter/innen aus Missionskirchen gewünscht.
In ihrem Ausblick wies Petra Bosse-Huber, Bischöfin für Ökumene und Auslandsarbeit und Vizepräsidentin des Kirchenamtes der EKD, auf das enorme Potential hin, das aus ihrer Sicht in der Orientierungshilfe liegt. Angedacht ist daher, bis zur Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im September 2022 eine englische Übersetzung zur Verfügung zu stellen, um Verständigungsarbeit zu fördern.
Deutlich wurde am Studientag, dass mit ihm und der Orientierungshilfe das Thema noch nicht erschöpfend bearbeitet ist. Das Potential für den Dialog und die Umsetzung in praktische Konsequenzen ist da – zwischen Landeskirchen und Pfingstbewegung und darüber hinaus. Bosse-Huber verwies auf eine Arbeitsgruppe, die zur Zeit im Auftrag des Kontaktgesprächskreises von EKD und Vereinigung Evangelischer Freikirchen (zu letzterer gehören u.a. auch mehrere Bünde von Pfingstgemeinden) Möglichkeiten vertieften Zusammenwirkens sondiert, z.B.: Wo gilt es Verletzungen aus der Geschichte aufzuarbeiten? Inwiefern kann man gemeinsam Gottesdienst feiern? Sich auf einen Kanzeltausch einlassen? Wo sind theologische Grundlinien gemeinsam zu fassen? Die Orientierungshilfe legt hier einen Grundstein und macht Lust auf eine nähere Beschäftigung. Und nicht nur das: Auf Begegnung und ein gemeinsames Lernen. Von- und miteinander. Mit der Inspiration des Heiligen Geistes.
Die Leiterin des Konfessionskundlichen Instituts, Pfarrerin Dr. Dagmar Heller, ist Mitglied in der EKD-Kammer für weltweite Ökumene. Der Beratende Mitarbeiter des KI, Pfarrer Dr. Dirk Spornhauer, wurde für die Arbeit an der Orientierungshilfe von der Kammer mit seiner Expertise für Pfingstkirchen und die Charismatische Bewegung mit einbezogen.