Für viele sieht es so aus, als sei der ökumenische Dialog zwischen den verschiedenen Kirchen gerade einmal etwas mehr als 100 Jahre alt. Dies gilt vor allem für die Begegnung zwischen evangelischen Kirchen und der Orthodoxie. Daher erstaunen immer wieder Entdeckungen von Manuskripten und Texten, die deutlich machen, dass bereits zur Zeit der Reformation Diskussionen zwischen den Reformatoren und Vertretern der Orthodoxie stattgefunden haben. Bisher ging man davon aus, dass Philipp Melanchthon im Jahre 1543 einen ersten brieflichen Kontakt mit einem orthodoxen Griechen aus Korfu hatte, allerdings nicht zu theologischen Themen, sondern hinsichtlich religiös-politischer Thesen der Reformation. Bekannt ist auch der Briefkontakt, der sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zwischen Tübinger Theologen und dem Patriarchen von Konstantinopel entspann. Dass aber bereits im Jahr 1534 Martin Luther eine Diskussion mit einem äthiopisch-orthodoxen Diakon führte, wurde erst kürzlich von dem orthodoxen Theologen Stanislau Paulau entdeckt. Eine detaillierte Analyse der Quellen und der Bedeutung dieser Begegnung findet sich in der demnächst erscheinenden Publikation seiner Göttinger Dissertation.

Am 18.11. 2020 veranstaltete deshalb das Berkely Center for Religion, Peace and World Affairs der Georgetown University in Washington ein Webinar zum Thema „The Proto-Ecumenical Dialogue of Abba Mikha‘el, Martin Luther and Philipp Melanchthon“ (Der ur-ökumenische Dialog zwischen Abba Mikha’el, Martin Luther und Philipp Melanchthon). Mitveranstalter war auch das Konfessionskundliche Institut. Auf einem online-Podium stellte Dr. des. Stanislau Paulau vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz seine Forschungsergebnisse vor. Der lutherische Prof. em. Timothy Wengert vom Lutherischen Seminar in Philadelphia, der aus Äthiopien stammende und in Hamburg arbeitende Äthiopienspezialist Dr. Solomon Gebreyes Beyene und die Orthodoxiereferentin des KI Dr. Dagmar Heller antworteten in je 10minütigen Statements. Dabei wurde deutlich, dass diese frühe Begegnung Luthers mit einem Vertreter der äthiopischen orthodoxen Kirche das bisherige Bild der ökumenischen Kontakte der Reformatoren vor allem mit orthodoxen Christen neu beleuchtet. Aber sie stellt auch die Vorstellungen der europäischen Kontakte im 16. Jahrhundert mit dem afrikanischen Kontinent in ein neues Licht. Dagmar Heller zeigte vor allem, dass sich in diesem Gespräch vorbildhaft zwei wichtige Erkenntnisse für den ökumenischen Dialog generell ablesen lassen: Vater Mikha’el legt ein erstaunliches Interesse an den Tag, Martin Luther und seine theologischen Auffassungen kennenzulernen, – eine Offenheit, die übrigens von Luther ebenso erwidert wird und die eine unabdingbare Grundlage für einen gelingenden Dialog darstellt. Zum andern stimmen die beiden Gesprächspartner – neben der Entdeckung inhaltlicher Übereinstimmung in einigen wichtigen theologischen Fragen – miteinander vor allem darin überein, dass unterschiedliche Art Gottesdienst zu feiern die Einheit zwischen den Kirchen nicht untergräbt, weil die geistlichen Aspekte wichtiger sind. Hier sind erste Ansätze einer geistlichen Ökumene zu finden.