Ein homogenes „evangelikales Schriftverständnis“ gibt es so wenig wie ein „universitär-theologisches Schriftverständnis“ oder wie einheitliche Ergebnisse hermeneutischer Ansätze, die auf der historisch-kritischen Methode aufbauen. Allerdings rechtfertigen drei miteinander im Zusammenhang stehende Aspekte die Rede von einem „evangelikalen Schriftverständnis“:

  1. Die evangelikale Abgrenzung gegenüber dem theologischen Schriftverständnis, wie es an den Universitäten gelehrt wird
  2. Die Versuche innerhalb der evangelikalen Bewegung, dem theologischen Pluralismus innerhalb der eigenen Reihen eine zumindest grob einheitliche Schriftauslegung entgegenzusetzen.
  3. Die evangelikale Suche nach einem angemessenen Umgang mit der Bibel.

Im Folgenden soll auf diese drei Aspekte genauer eingegangen werden, wobei die Überlegungen nur einen holzschnittartigen Überblick über die Lage in Deutschland geben und zahlreiche Details, die das Thema bietet, ausgeblendet werden müssen. Dazu gehört u.a. die Betrachtung evangelikaler hermeneutischer Ansätze in Pfingst-, charismatischen und neo-pentecostalen Bewegungen. In den vorliegenden Ausführungen erfolgt eine Fokussierung auf den so genannten „Wortevangelikalismus“, der sich dezidiert auf die Bibel als grundlegende Offenbarung bezieht.

  1. Die evangelikale Abgrenzung gegenüber dem universitär-theologischen Schriftverständnis

Das aversive Verhältnis des Evangelikalismus zur akademischen Theologie, die oft gleichgesetzt wird mit der historisch-kritischen Methode, steht unmittelbar damit im Zusammenhang, dass die evangelikale Bewegung historisch aus der Theologiekritik, nämlich der Kritik an Bultmann, hervorgegangen ist.[1]

1963, d.h. also zu einem Zeitpunkt, als es im engeren Sinne noch gar keine Evangelikalen gab, lediglich Vorläufer einer evangelikalen Bewegung, wurden von Mitgliedern des so genannten Bethelkreises dem Rat der EKD Thesen zum Schriftverständnis und zur „modernen Theologie“ vorgelegt. Aus dem Bethelkreis, der sich aus Pietisten, Evangelisten, Vertretern der Gemeinschaftsbewegung und von Freikirchen zusammensetzte, ging 1966 die „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ hervor. In den Thesen hieß es:

„Wir bestreiten der autonomen Erkenntnis und der von ihr bestimmten historisch-kritischen Methode die Kompetenz zur Erfassung der göttlichen Offenbarung im Fleische in der Sendung des Sohnes vom Vater. […] Wir lehren in Uebereinstimmung mit der Schrift und der res ipsa der reformatorischen Theologie SERVUM INTELLECTUM, dass die autonome Vernunft und die von ihr bestimmte historisch-kritische Methode nichts sei.“[2]

Hier zeigt sich in Abwehr der akademischen, der „modernen Theologie“, wie es damals hieß, eine evangelikale Grundkonstante, das bis heute andauert: Die akademische Theologie, die die Vernunft des Menschen dem Wort Gottes vorordne, versündige sich an Gott und reiße Menschen ins Verderben.[3] Evangelikale Theologie ist generell und nicht nur punktuell kritisch gegenüber der universitären Theologie, und zwar nicht nur hinsichtlich einzelner theologischer Optionen, sondern der Theologie als Wissenschaft überhaupt. In der Frage der Schriftauslegung und Hermeneutik kumuliert diese Kritik allerdings.

  1. Evangelikale theologische Vereinheitlichungstendenzen

Im Weiteren wird auf zwei evangelikale Aspekte der Bibelauslegung eingegangen werden, durch die eine Homogenisierung evangelikaler Hermeneutik angestrebt wird: Einmal die Verbalinspiration bzw. die Unfehlbarkeit der Schrift und zweitens die pneumatologische Grundlegung der Hermeneutik.[4]

2.1. Die Heilige Schrift als das von Gott inspirierte unfehlbare Wort

Auf organisatorisch-praktischer Ebene hatte die bis heute durchgängige evangelikale Wahrnehmung, an den theologischen Fakultäten werde der Glaube von Theologiestudenten systematisch untergraben, praktische Konsequenzen, nämlich die Gründung eigener evangelikaler Ausbildungsstätten bzw. die evangelikale Ausrichtung bereits bestehender Bibelschulen und freien Ausbildungsstätten seit Ende der 1950er und in den 1960er Jahren. Die meisten von ihnen sind heute in der 1963 gegründeten „Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten“ (KbA) zusammengeschlossen. Die KbA nahm in den 1980er Jahren die „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift“ als verpflichtende Grundlage an.[5] In der Satzung der KbA von 1987 hieß es u.a., die Mitglieder treten ein für die Förderung eines „ehrfürchtigen und vertrauensvollen Umgangs mit der Heiligen Schrift“ und der

„Förderung des Studiums der Heiligen Schrift in ihrer von Gott gegebenen Offenbarungseinheit, die darum in jeder Hinsicht Gottes vertrauenswürdiges Wort ist und deshalb auch in ihren Aussagen über Ursprung, Geschichte und Heilsziel des Menschen und der Welt verbindlich ist.“ Weiterhin ging es der KbA darum, „die Geister kritisch zu unterscheiden […] [und] rationalistische und empiristische Methoden wie eine historisch und humanwissenschaftlich kritische Auslegung der Heiligen Schrift als unsachgemäß zu durchschauen und zu überwinden.“[6]

Heute kann man auf der Homepage der KbA als ersten Punkt der „Glaubensgrundlagen“ erfahren, dass die angeschlossenen Ausbildungsstätten „glauben und bekennen: 1. Die göttliche Inspiration und die Unfehlbarkeit der ganzen Heiligen Schrift“.[7] Aktuell sind der KbA 37 Einrichtungen verschiedener Provenienz angeschlossen.[8]

Erich Geldbach, emeritierter Bochumer Professor für Ökumene und Konfessionskunde, konstatierte 2007, die freien Akademien, Bibel- und Bekenntnisschulen spielten eine zentrale Rolle bei der fundamentalistischen Vereinnahmung des deutschen Evangelikalismus.[9] Auch Evangelikale selbst sehen diese Gefahr, allerdings nicht bei allen evangelikalen Ausbildungsstätten, die der KbA angeschlossen sind. So charakterisiert der evangelikale Autor Friedhelm Jung in seiner Untersuchung „Die deutsche Evangelikale Bewegung“ die Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel und die Freie Theologische Hochschule Gießen als „fundamentalistische Ausbildungsstätten“.[10]

Der „streng biblizistische“ bzw. „fundamentalistische Ansatz“ der Bibelauslegung, wie ihn Jung in seiner Studie nennt,[11] ist entgegen der landläufigen Meinung durchaus auch bei Evangelikalen, nicht nur bei Fundamentalisten anzutreffen.[12] Er kommt besonders deutlich in den drei „Chicago-Erklärungen“ von 1978, 1982 und 1986 zum Ausdruck. Mit allen drei Erklärungen wurde versucht, der seit Ende der 1970er Jahre zunehmenden Unterminierung der Inspirationslehre im evangelikalen Bereich Einhalt zu gebieten.[13] Wirkungsgeschichtlich bedeutsam wurde allerdings v.a. die erste Erklärung, die „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift“. Sie war wie gesagt lange Zeit Glaubensgrundlage der KbA und der ihr angeschlossenen Bildungseinrichtungen. Aber auch darüber hinaus galt sie in vielen evangelikalen Organisationen als Glaubensgrundlage und diente damit der Homogenisierung der evangelikalen Theologie.

Die „Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift“, die wie die beiden nachfolgenden „Chicago-Erklärungen“ mit dem rhetorischen Stilmittel „Wir bekennen – wir verwerfen“ unmittelbar an protestantische Bekenntnisschriften anknüpft, legt in 19 Artikeln dar, dass die Bibel in ihrer Gesamtheit „von Gott gegebene Offenbarung“ und weder nur ein Zeugnis der Offenbarung, noch in ihrer Gültigkeit „von menschlicher Aufnahme“ abhängig sei.[14] In einer „Kurzen Erklärung“ wird das wie folgt ausgeführt:

„[…] Die Heilige Schrift hat […] unfehlbare göttliche Autorität: Ihr muß als Gottes Unterweisung in allem geglaubt werden, was sie bekennt; ihr muß als Gottes Gebot gehorcht werden, in allem, was sie fordert; sie muß als Gottes Unterpfand in allem ergriffen werden, was sie verheißt. […] Der Heilige Geist, der göttliche Autor der Schrift, beglaubigt sie sowohl durch sein inneres Zeugnis, als auch, indem er unseren Verstand erleuchtet, um ihre Botschaft zu verstehen. […] Da die Schrift vollständig und wörtlich von Gott gegeben wurde, ist sie in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler. Dies gilt nicht weniger für das, was sie über Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Ereignisse der Weltgeschichte und über ihre eigene literarische Herkunft unter Gott aussagt, als für ihr Zeugnis von Gottes rettender Gnade im Leben einzelner. […] Die Autorität der Schrift wird unausweichlich beeinträchtigt, wenn diese völlige göttliche Inspiration in irgendeiner Weise begrenzt oder mißachtet oder durch eine Sicht der Wahrheit, die der Sicht der Bibel von sich selbst widerspricht, relativiert wird. Solche Abweichungen führen zu ernsthaften Verlusten sowohl für den einzelnen, wie auch für die Kirche.“[15]

Für die hermeneutische Position eines „fundamentalistischen Ansatzes“ ist die „Chicago-Erklärung zur Biblischen Hermeneutik“ von 1982 noch bedeutsamer. Wie die vorangegangene „Erklärung zur Irrtumslosigkeit“ und die „Chicago-Erklärung zur biblischen Anwendung“ von 1986 wurde sie vom „International Council on Biblical Inerrancy“, der sich von 1977 bis 1988 zusammenfand, verabschiedet. In der „Chicago-Erklärung zur Biblischen Hermeneutik“ wird, um einige Artikel exemplarisch darzustellen, in Art. V das Verständnis der Schrift von der Erleuchtung durch den Heiligen Geist abhängig gemacht, in Art. VII festgelegt, dass die von jedem biblischen Text ausgedrückte „Bedeutung“ eine „einzige, bestimmte und unabänderliche Bedeutung“ sei und in Art. XV postuliert, dass die Bibel lediglich im Wortsinn, d.h. im grammatisch-historischen Sinn, ausgelegt werden darf, wobei, so Art. XVII, die Schrift selbst ihr eigener und bester Ausleger sei. Als ein Beispiel der zum Maßstab erhobenen Auslegungsform kann die Aussage in Art. XXII gelten, dass 1. Mose 1-11 ebenso ein „Tatsachenbericht“ sei wie der Rest des Buches. Allerdings wird in Art. XXIII die Auffassung verworfen, dass alle Abschnitte der Bibel „gleichermaßen klar seien oder von gleicher Bedeutung für die Botschaft von der Erlösung“.[16] Um das Bild zu komplettieren: In der dritten „Chicago-Erklärung zur biblischen Anwendung“ werden die sozialethischen Implikationen der Schriftauslegung entfaltet, und zwar auffälliger Weise dergestalt, dass die exegetischen und hermeneutischen Vorüberlegungen der beiden vorangegangenen Chicago-Erklärungen dabei nicht explizit an- und ausgeführt werden. Es geht u.a. um „Die Heiligkeit des menschlichen Lebens“ (Art. V), „Ehe und Familie“ (Art. VI), „Scheidung und Wiederheirat“ (Art. VII), „Sexuelle Verirrungen“ (Art. VIII), „Der Staat unter Gott“ (Art. IX), „Diskriminierung und Menschenrechte“ (Art. XII), „Wirtschaft“ (Art. XIII), „Reichtum und Armut“ (Art. XV), „Die Verwaltung der Umwelt“ (Art. XVI).[17] Die Entwicklung und Rezeption der drei Chicago-Erklärungen ist eine paradigmatische evangelikale Ideengeschichte: War man 1978 noch der Meinung, das Proklamieren der Irrtumslosigkeit des Wortes Gottes reiche aus für eine fundierte Position gegenüber der „Bibelkritik“ wurde in den nachfolgenden Jahren klar, dass es weiterer Konkretisierung bedurfte, besonders im Hinblick auf die Gestaltung der Hermeneutik und schließlich der Ethik.[18] Dass sich letztlich genau diese Formen der Konkretisierung der Schriftauslegung, die in der Erklärung zur Hermeneutik und Anwendung zum Ausdruck kommen, wirkungsgeschichtlich weitestgehend als bedeutungslos erwiesen, im Gegensatz zur Proklamation der Irrtumslosigkeit der Schrift, deutet auf ein grundsätzliches Problem des „fundamentalistischen Ansatzes“ hin.

Die Ausblendung des hermeneutischen Zirkels mit dem Argument, ihn überhaupt zuzulassen sei inakzeptabel, weil anthropologisch, führte und führt im evangelikalen Bereich immer wieder zu Simplifikationen. 1992 erklärte beispielsweise der Ulmer Regionalbischof, Vorsitzende der Ludwig-Hofacker-Vereinigung und Vorsitzende des Trägerkreises des „Gemeindetages unter dem Wort“ Rolf Scheffbuch, es sei nicht nötig, die Bibel mit Hilfe von „neuen Zugängen“ auf Brauchbares für die Gegenwart abzuklopfen, denn „wir haben keine Meinung über die Bibel als die, daß uns die Bibel die Meinung sagen darf.“[19]

 

2.2. Die pneumatologische Grundlegung der Hermeneutik oder die Theologia Regenitorum Ein weiterer Aspekt evangelikaler Hermeneutik – die auch bei der Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit zum Tragen kommt –, ist die Annahme, dass die Beglaubigung und Erleuchtung durch den Heiligen Geist entscheidend für das Verständnis der Heiligen Schrift sei. Ein früher Vertreter einer solch pneumatologisch fokussierten Hermeneutik war der Betheler Dozent für Altes Testament Hellmuth Frey, Mitarbeiter in dem schon erwähnten Bethelkreis. Frey war ein scharfer Kritiker der historisch-kritischen Methode und resümierte 1971 als Ergebnis langjähriger Studien, dass es letztlich keine Methode der Auslegung der Heiligen Schrift geben könne und dürfe. Exegese sei „auf allen ihren Stufen auf pneumatische Erleuchtung ihrer Erkenntnis angewiesen“[20]. D

Dass sich die evangelikale Hermeneutik letztlich nicht ganz und gar auf das Feld der pneumatologischen Begründung begab, lag v.a. darin begründet, sich nicht auf das Terrain der pfingstlerisch-charismatischen Formen von Schriftdeutung begeben zu wollen. Zu diesen Bewegungen und Strömungen hielten diejenigen Evangelikalen, die sich auf die Bibel, „das Wort“ beriefen, bis in die 1990er Jahre dezidiert Abstand.

Beide Herangehensweisen an die Bibel, sowohl die pneumatologisch begründete als auch die, die Unfehlbarkeit der Schrift zu betonen, wurde bereits Anfang der 1960er Jahre von einem heute nahezu in Vergessenheit geratenen prä-evangelikalen Theologen kritisiert, dem Pfarrer und Leiter der Pfarrer-Gebets-Bruderschaft Otto Rodenberg. Rodenberg, ursprünglich Bultmannschüler, war einer der profiliertesten Köpfe im Lager der sich formierenden evangelikalen Bewegung in den 1960er Jahren. Er kritisierte den theologischen Ansatz seiner evangelikalen Mitstreiter, die in nahezu jeder Verlautbarung das „Wortfundament“ der Bibel dem „Personfundament“ in Christus voranstellten, d.h. den Glauben an die Schrift postulierten, nicht den Glauben an Christus. Daraus folge, so Rodenberg, dass aus der Theologie eine Geheimwissenschaft und aus der Bibel ein Geheimdokument gemacht werde, was wiederum in Wechselwirkung zu dem mehr oder weniger offen ausgesprochenen Postulat stehe, nur Wiedergeborene dürften Theologie studieren. Rodenberg betonte, der Schrift sei nicht zu entnehmen, dass darin nur unter Einwirkung des Heiligen Geistes gelesen werden dürfe, ebenso wenig wie die Aussage, die Schrift sei das eigentliche Glaubensfundament. Die Schrift fordere nicht dazu auf, Zeugen der Schrift, sondern Zeugen Jesu Christi zu sein. Mit Hans Joachim Iwand konstatierte Rodenberg, „daß der Pietismus von dem Zeitpunkt an im Rückzug war, als er die Wahrheit der Schrift als eine nur dem Glauben zugängliche ansah […]. Es geht dabei doch um die Frage, ob Glauben und Wissen aus verschiedenen Quellen schöpfen, anders ausgedrückt: ob es eine eigene Hermeneutik für die Bibel geben müsse.“ Mit dieser Frage, so Rodenberg, sei aufs engste die „Frage nach der Wissenschaft überhaupt“ verknüpft und an diesem Punkt sehe er „die Hauptnot des Pietismus, dass er diese Frage höchst bequem auf sich beruhen läßt und sich auf die Wahrung seiner Geheimwissenschaft zurückzieht – theologia regenitorum!“ [21]

Die Theologia Regenitorum, die „Theologie der Wiedergeborenen“ erstreckt sich nicht nur bis in die gegenwärtige evangelikale Suche nach einer Hermeneutik, sondern sie reicht zurück bis in die Reformation und die lutherische Orthodoxie. Angesichts ihrer langen kirchengeschichtlichen Tradition konstatiert Gerhard Maier, ehemaliger Bischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Studienleiter und Rektor des Albrecht-Bengel-Hauses in Tübingen und Gastdozent an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, in seiner „Biblischen Hermeneutik“, es sei „unmöglich, eine theologia regenitorum für gescheitert oder überholt zu erklären.“[22] Es ist zu vermuten, dass dieser theologische Ansatz auch in Zukunft im evangelikalen Lager eine nicht geringe Rolle als ein einigendes Band spielen wird.[23]

  1. Die evangelikale Suche nach einem angemessenen Schriftprinzip oder der innerevangelikale hermeneutische Pluralismus

Schon seit den 1960er Jahren gab es innerevangelikale Differenzen um die Schriftauslegung, die sich bis heute durch die Debatten ziehen, die aber von außen kaum wahrgenommen werden. Das liegt u.a. daran, dass das Bekenntnis zur Verbalinspiration und zur Unfehlbarkeit der Bibel auch von Gruppen und Strömungen innerhalb der evangelikalen Bewegung proklamiert wird, die bei genauerer Betrachtung dieses gar nicht vertreten, zumindest nicht in dem Sinne, in dem im Allgemeinen assoziiert wird. Um das zu exemplifizieren lohnt sich ein Blick in die Geschichte der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA), die sich seit den 1970er Jahren als das „Sammelbecken der Evangelikalen“ versteht und die inzwischen eine ganze Bandbreite evangelikaler Haltungen und Anschauungen unter ihrem Dach versammelt. Auf der Gründungsveranstaltung der Evangelischen Allianz 1846 in London wurden neun Lehrsätze verabschiedet, die die „Basis“ der zukünftigen Allianzarbeit darstellen sollten. Dazu gehörte auch der Glaube an die göttliche Eingebung, Autorität (Ansehen) und die Zulänglichkeit (Allgenügsamkeit) der Heiligen Schrift sowie das Recht und die Pflicht des eigenen Urteils in ihrer Erklärung.[24] Im zeitgenössischen Kontext, Mitte des 19. Jahrhunderts im englischsprachigen Raum, stellten diese Leitlinien Reaktionen auf aktuelle kirchenpolitische und theologische Probleme dar. Im Gegensatz einigen heutigen Interpretationen richtete sich die Gründung nicht gegen einen vermeintlichen Pluralismus und eine Verwässerung biblischer Aussagen in den Kirchen, sondern war ein im besten Sinne ein ökumenisches Anliegen. Es sollte durch die Allianz verdeutlicht werden, „daß ein lebendiges und einigendes Band alle wahrhaft Gläubigen miteinander verbindet in der Gemeinschaft der Kirche Christi“, und damit den konfessionellen Trennungen und der „Erkaltung der Liebe“ entgegengewirkt werde.[25] Der Intention der Gründung folgend lehnte die DEA noch 1952 die angebotene Mitgliedschaft bei der „World Evangelical Fellowship“ ab, mit der Begründung, diese habe ein stark „stark fundamentalistisches Gepräge“, da hier die Gemeinschaft mit denjenigen Christen abgelehnt wurde, die nicht die Verbalinspirationslehre vertraten.[26] Diese Haltung der DEA sollte sich aber bald ändern: 1968 traten sie und die meisten europäischen Allianzen der „World Evangelical Fellowship“ schließlich doch bei. Der Anschluss widerspiegelte die zunehmende Polarisierung in den Auseinandersetzungen um die „Bibelkritik“ Ende der 1950er Jahre und in den 1960er Jahren. Im Frühjahr 1972 nahm der Hauptvorstand der DEA die 1970 vom „Evangelical Alliance Council“ beschlossene Glaubensbasis an. Im Gegensatz zu der Allianzbasis von 1846, die eine Arbeitsbasis und kein Bekenntnis darstellte, tendierte die 1972 verabschiedete Glaubensbasis zu dem Glaubensbekenntnis der „World Evancelical Fellowship“: Hier wie dort wurde das Wirken Christi ausführlicher als 1846 im Sinne der Verbalinspiration ausgelegt, ebenso das Wirken des Heiligen Geistes. Das „Recht und die Pflicht eines persönlichen Urteils“ in Bezug auf Auslegungsfragen sowie die Verbindlichkeit von Taufe und Abendmahl waren ersatzlos gestrichen worden. „Auch die Betonung der Haltung, keine der christlichen Kirchen ‚stören’ zu wollen, fehlt 1970 und 1972 – kein Wunder angesichts des praktizierten Vorsatzes, heilsame Unruhe in den Kirchen stiften zu wollen“,[27] konstatiert Roger J. Busch in seiner Untersuchung zur „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“. In der aktuellen „Basis des Glaubens“ der DEA heißt es im zweiten Punkt „Wir bekennen uns […] zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“.[28] Auch wenn „göttliche Inspiration“ weiter gefasst werden kann als „Verbalinspiration“ ist die Nähe beider Ansätze doch so groß – und für Vertreter der historisch-kritischen Hermeneutik nahezu spitzfindig –, dass selbst Evangelikale überrascht sind, wenn sie auf unterschiedliche Definitionen stoßen. So kam z.B. zu einem handfesten Eklat im evangelikalen Lager, als im März 2003 der Hauptvorstand der DEA vorsichtig davor warnte, „die Inspirationslehre der ‚Chicago Erklärung [zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift]’ zum entscheidenden Maßstab der Bibeltreue zu erheben.“ Besonders seitens der KbA und auch des „Bibelbundes“, zu dessen Zielen die „Stärkung des Vertrauens in die Irrtumslosigkeit der heiligen Schrift“ gehört,[29] löste diese Haltung Empörung aus.[30]

Das Schlagwort von der „Unfehlbarkeit“ oder „göttlichen Inspiration der Schrift“, ob nun als wörtliche Inspiration verstanden oder dem Prinzip nach, war und bleibt das verbindende Element evangelikaler Schriftauslegung und Hermeneutik. Und das Panorama, das sich hinter dieser Parole eröffnet, ist wesentlich bunter und vielfältiger, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. 2002 klagte der „Bibelbund“:

„Was in Deutschland unter dem Begriff ,bibeltreu’ zu verstehen ist, scheint nicht mehr klar zu sein. […] Der Begriff ,bibeltreu’ stand für die Unfehlbarkeit, Wahrheit, Fehlerlosigkeit und Widerspruchslosigkeit von GOTTES WORT. Auch, was unter ,gemäßigter Bibelkritik’ zu verstehen ist, davon hatten Bibeltreue eine Ahnung: Wenn die Entstehung biblischer Texte in eine andere Zeit verlegt wurde, als die biblischen Schriften es bezeugen, oder andere Verfasser für die Texte genannt wurden, als es die Bibel selbst vorgibt, gingen die ,roten Lampen’ an. Doch diese Sicherheit scheint dahin zu sein.“[31]

2008 monierte der stellvertretende Vorsitzende des Bibelbundes, Thomas Jeising, mit dem Bekenntnis zur Unfehlbarkeit der Bibel würden aktuell Standpunkte von der festen Überzeugung der Irrtumslosigkeit bis zu nahezu radikaler Bibelkritik verbunden.[32] Diese Aussagen sind keine unbegründete innerevangelikale Polemik – es ist in der Tat so, dass sich hinter „göttliche Inspiration“ oder „Unfehlbarkeit der Schrift“ ein sich immer stärker ausdifferenzierender theologischer evangelikaler Pluralismus abzeichnet.

Im Mai 2002 geriet der Direktor des Theologischen Seminars Bad Liebenzell, Heinzpeter Hempelmann, durch Helge Stadelmann, Rektor der Freien Theologischen Hochschule Gießen, durch den Vorwurf unter Druck, es sei in Liebenzell Praxis, „gängige bibelkritische Positionen“ zu lehren.[33] Auf der Tagung der KbA im November 2001 hatte Hempelmann erläutert, er trete dafür ein, Bibelkritik nicht zuzulassen, sondern „bibeltreu“ zu sein, und zwar gegen das seiner Meinung nach rationalistische, nicht bibeltreue Bekenntnis, die Bibel sei Gottes irrtumsloses Wort. In der kurz zuvor publizierten Broschüre „Gemeinsame Liebe“ hatte Hempelmann hervorgehoben, dass eine „Hermeneutik und Schriftlehre […] nur dann bibeltreu sein können [wird], wenn sie von dem spezifisch biblischen Zeugnis über den lebendigen Gott und sein Reden ihren Ausgang nimmt und dieses Reden Gottes als das begreift, was der Bibel Gestalt und Wesen gibt“[34], wobei die Bibel ein „von Gott so gewolltes, nicht perfektes, aber vollkommenes Buch“[35] sei. Vor diesem Hintergrund sei eine

„Hermeneutik der Irrtumslosigkeit [wie von der Chicago-Erklärung von 1978 proklamiert] nicht nur einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkstil verpflichtet. Sie sucht eben auch in gut rationalistischer Tradition ihren Gegenstand mit ihrer Vernunft zu umgreifen und zu begreifen, um sich so ein Urteil über ihn zu bilden. […] Wir müssen versuchen, die Wahrheit, die völlige Vertrauenswürdigkeit und völlige Glaubwürdigkeit der Bibel anders zu sagen. Es gibt hier offenbar ein paar philosophische, aussagenlogische und wissenschaftstheoretische Probleme, die die Verfasser der Chicago-Erklärung entweder nicht gesehen oder nicht ernst genug genommen haben, deren Nicht-Beachtung aber die Chicago-Erklärung als unterbestimmt und zu wenig reflektiert erscheinen lassen. Wir bitten um Verständnis dafür, dass wir – bei aller Wertschätzung der Ziele – ein solches Dokument nicht unterstützen können und wollen.“[36]

Eine solche Haltung ging Stadelmann und einer Anzahl von Ausbildungsstätten der KbA zu weit. Sie votierten dafür, dass diejenigen, die die Unfehlbarkeit der Bibel in dem Sinne verstehen würden, die Bibel habe auch Fehler und sei nicht in allen Dingen wahr, aus der Konferenz austreten sollten.[37] Die Nachfolgeeinrichtung des Theologischen Seminars Bad Liebenzell, die Internationale Hochschule Liebenzell, ist allerdings nach wie vor Mitglied der KbA.

2005 veröffentlichte Helge Stadelmann eine Monografie zum evangelikalen Schriftverständnis, in der er sich weiterhin auf die, seiner Interpretation nach, auf Luther zurückgehende und in den Bekenntnisschriften wiederholte, göttlichen Inspiration und Irrtumslosigkeit der Schrift berief.[38] Er monierte scharf jedwede Form von „Bibelkritik“, besonders die „schwerer zu durchschauen[de]“ gemäßigte Bibelkritik von Adolf Schlatter, Karl Barth und Emil Brunner.[39] Die hermeneutische Stoßrichtung Stadelmanns liegt auf einer heilsgeschichtlichen Hermeneutik der Bibel: „Ein angemessenes Bibelverständnis ist nur im Rahmen heilsgeschichtlicher Theologie möglich. Heilsgeschichtliche Theologie ermöglicht konsequente Schriftauslegung nach dem Literalsinn […]“.[40] Das heilsgeschichtliche Denken helfe „zum einen bei der Auslegung der Bibel“[41], „vor allem aber bei einer sachgemäßen Anwendung der Bibel“[42]. Außerdem spricht sich Stadelmann für „einen pneumatischen Ansatz für die Exegese“[43] aus. Die Anwendung des heilsgeschichtlichen Denkens nun führt Stadelmann zu Feststellungen wie die, dass Bibelkritik und Liberalismus im Gegensatz zum „Bibelfaktor“ – so sein Terminus – die Kirchen leere,[44] hinsichtlich der Frauenordination „das Pendel nicht […] bis zum unbegrenzten Lehr- und Leitungsdienst von Frauen“ durchschwinge,[45] und das Theologiestudium von einer massiven Krise betroffen sei.[46]

Ebenfalls an der „hermeneutischen Aufgabe: Den Weg finden“ übt sich in einer jüngeren Publikation Stadelmanns Kollege in Gießen, der Systematiker und Theologiehistoriker Christoph Raedel. Raedel greift bei seiner Erörterung einer hermeneutischen Grundlegung ethischer Urteilsbildung hinsichtlich von Ehe und Ehescheidung auf den US-amerikanischen Systematiker an der Trinity Evangelical Divinity School in Deerfield/Illinois, Kevin Vanhoozer, zurück und führt aus: „Wir sind an dem Punkt angekommen, an dem wir anerkennen müssen, dass es kein methodisch exaktes Verfahren gibt, mit dem sich – vorab – feststellen ließe, wie das Evangelium in einem neuen Umfeld [d.h. der modernen Welt] Gestalt gewinnt. In letzter Konsequenz, so Vanhoozer, braucht es dafür auch kein ‚methodisches Verfahren, sondern geheiligte Personen, deren Herz und Verstand und Vorstellungskraft ergriffen ist vom Wort Gottes.‘ Und dennoch“, so Raedel weiter, „ist diese Bemerkung keine Einladung zu Willkür oder Relativismus, vielmehr zu einem vertieften Verständnis dessen, was in einer Interpretationsgemeinschaft geschieht, auch wenn es nicht in den nachstehenden Begriffen expliziert wird.“[47] Diese Äußerung schließt einen Abschnitt in Raedels Aufsatz ab, in dem er sechs so genannte Kontext-Kriterien zum Verständnis biblischer Texte vorstellt, die der US-amerikanische methodistische Theologe Mark. L. Stamm entwickelte. U.a. gehört dazu auch das „Kriterium der kulturellen Begrenztheit“, das bedeutet, „die Reichweite einer Regel [für die Gegenwart] ist […] umso geringer, desto stärker der Autor innerhalb der Grenzen seiner Kultur bleibt.“[48] Die Konsequenzen, die ein solches Prinzip für die Schriftauslegung hätte – die anderen von Raedel aufgezählten ebenso –, wären zumindest für die evangelikale Hermeneutik ausgesprochen progressiv (in Raedels Ausführungen zum Umgang mit Ehe und Ehescheidung aus biblischer Sicht schlagen sie sich in moderat konservativen Schlüssen nieder). Es stellt sich die Frage, warum Raedel mit dem Vanhoozer-Zitat bezüglich eines nicht näher exemplifizierten Geschehens in einer von Heiligung und Ergriffensein charakterisierten Interpretationsgemeinschaft seine Hermeneutik gleichsam vernebelt.

Wie für die ältere Zeitgeschichte am Beispiel von Otto Rodenberg[49] und die neuere am Beispiel von Heinzpeter Hempelmann deutlich wurde, gibt es evangelikale Theologen, die evangelikale Schlagworte wie „Wort Gottes“ im Sinne der „göttliche Inspiration“ oder „geistgewirktes Verständnis der Schrift“ auf ihrer Suche nach einem evangelikalen Schriftverständnis radikal neu interpretieren und damit die theologische evangelikale Homogenisierung nicht nur unterlaufen, sondern ihr nahezu diametral gegenüber stehen. Dies setzt sich bei einem Text des Systematikers an der evanglikalen Hochschule Tabor in Marburg, Thorsten Dietz, fort, den er im Oktober 2014 als Grundlage eines evangelikalen Gesprächs über Schriftauslegung??? vorlegte. Die Bibel wird hier als Wort Gottes verstanden, wobei eine „Preisgabe des Verständnisses der Bibel als Wort Gottes […] da nötig [ist], wo man den Ausdruck ‚Wort Gottes‘ in einem fundamentalistischen Sinne absolut setzt und keinen Unterschied zwischen dem Evangelium und den Einzelaussagen des schriftlichen Wortes Gottes macht.“[50] Das führt zu einem zentralen Punkt in Dietz‘ Ausführungen:

„Die Rede von der Mitte der Schrift [Jesus Christus] steht nicht im Gegensatz zur Betonung der ganzen Schrift (tota scriptura). Beide Aspekte setzen einander voraus. […] Das Evangelium wird verkürzt, wo es nicht im Horizont der ganzen Bibel verstanden wird. Die ganze Bibel wird verfehlt, wo sie nicht auf das Evangelium hin gelesen wird. Nicht die Bibel, das schriftliche Wort Gottes, ist Gottes entscheidende Offenbarung; das ist Jesus Christus selbst. Aber die Bibel ist das Medium, durch das die Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus uns zugänglich wird; darum und in diesem Sinn ist uns die Bibel das schriftliche Wort Gottes.“[51]

Oder, an anderer Stelle: „Die Schrift ist Zeuge des Evangeliums.“[52]

Friedhelm Jung unterscheidet in seiner Untersuchung zur evangelikalen Bewegung zwei Hauptströmungen der evangelikalen Bibelauslegung: Neben der fundamentalistischen Verbalinspirationslehre werde auch ein gemäßigter Biblizismus betrieben, der eine „Sachkritik an der Bibel für unverzichtbar oder wenigstens für möglich“ hält. Diese Form der Bibelauslegung lehne sich zu einem großen Teil an die Theologie von Adolf Schlatter an. Der Begriff „Irrtumslosigkeit der Schrift“ werde bei diesem Ansatz versucht zu vermeiden, da ein bestimmtes „Inspirationsdogma“ abgelehnt werde. Der historisch-kritischen Methode, mit der einige der gemäßigten Biblizisten arbeiteten, wird die historisch-biblische Methode gegenüber gestellt, die sich insofern von der historisch-kritischen Methode unterscheide, als dass in der praktischen Anwendung die Literaturkritik, Formgeschichte und redaktionsgeschichtliche Analyse anders angewendet werde, die textkritische Arbeit aber nach historisch-kritischen Maßstäben verlaufe.[53] Die Grobeinteilung zwischen „fundamentalistischem“ und „historisch-biblischem“ Ansatz in der evangelikalen Exegese und Hermeneutik legte Jung 1992 erstmalig vor. Ihr ist nach wie vor zuzustimmen, wobei die progressiven Ansätze der historisch-biblischen Interpretationsmethode innerhalb der evangelikalen Bewegung nach wie vor eher die Minderheit darstellen dürften. Und für Außenstehende besonders irritierend: Sie laufen trotzdem oft unter dem Schlagwort „göttliche Inspiration“/„Unfehlbarkeit der Schrift“. Auch die Hochschule Tabor in Marburg, an der Thorsten Dietz unterrichtet, ist Mitglied der KbA, die, wie eingangs dargestellt, die „göttliche Inspiration und die Unfehlbarkeit der ganzen Heiligen Schrift“[54] glaubt und bekennt.

PD Dr. Gisa Bauer, Bensheim

[1] Vgl. Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989). Göttingen 2012, S. 65-82 u.ö.

[2] Thesen zum 29. Januar 1963 in Hannover-Herrenhausen. Maschinenschriftl.; Archiv des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Kassel: II, Dienste und Mitarbeit, 6. Betheler Kreis, Nr. 261: Geschichtliches Werden.

[3] Um nur zwei Beispiele jüngeren Datums aus der Fülle der polemisch-kritischen Stimmen zu nennen: „Christliche Dekadenz […] kommt aus der Mitte der Kirche, aus dem Zentrum der Theologie“ (Günter Rohrmoser: Christliche Dekadenz – Ursachen und Hintergründe. IDEA.D 20 [1996], S. 6); „Die Wurzel des Übels liegt […] nämlich in der Universitätstheologie und der Ausbildung der Pfarrer an staatlichen Fakultäten“ (Helge Stadelmann: Bekenntnisbewegung und Kirche. Miteinander – Gegeneinander – Ohne einander. Diskussionsbeitrag, in: In der evangelischen Kirche bleiben oder austreten? Ein theologischer Disput zwischen Prälat Dr. Gerhard Maier [Ulm] und Dr. Helge Stadelmann [Rektor der Freien Theologischen Akademie, Gießen]. IDEA.D 4 [1999], S. 23-27, hier S. 25).

Eine andere Stoßrichtung hat die Kritik im eher liberalen evangelikalen Lager, die auf ein Problem hinweist – und je unpolemischer, desto schlimmer –, das immer wieder auch an den Fakultäten selbst diskutiert wird: das Auseinanderfallen von theologischer Wissenschaft (ganz speziell der exegetischen Wissenschaft) und der Kirche und aller ihr zugeordneten Sphären. Der Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes Michael Diener brachte dieses Auseinanderdriften von Theologie und Kirche hinsichtlich der „Autorität“ der Schrift wie folgt auf den Punkt: „[…] Die Bibel [wird] einerseits zum historischen Schriftstück wie jedes andere, um dann, nachdem der Wissenschaftlichkeit Genüge getan wurde, im gottesdienstlichen Gebrauch als ‚Heilige Schrift‘ wieder uneingeschränkt zu Ehren zu kommen.“ (Michael Diener: Was bedeutet heute „Schriftprinzip“ aus pietistischer Perspektive? Skript, Bl. 2). Ob diese Schizophrenie, die Polarisierungen zwangsläufig nach sich ziehen muss, auf die historisch-kritische Methode zurückzuführen ist, wie Diener konstatiert (ebd.) oder auf den hohen Grad der Spezialisierung der theologischen Fachforschung, wie der evangelikale Marburger Systematiker Thorsten Dietz vermutet (Thorsten Dietz: Bibel und Hermeneutik. Über Wesen, Verständnis und Gebrauch der Heiligen Schrift. 28.10.2014. Skript, S. 12), muss vorerst dahin gestellt bleiben. Fakt ist, dass es sich hier um ein Problem mit immensen Auswirkungen für Kirche und Theologie handelt und das bei der Frage der Schriftauslegung und des Schriftverständnisse ganz prekär wird.

[4] Ein weiteres, die Geschichte der evangelikalen Theologie durchziehendes und eine Ausgangsbasis hermeneutischer Überlegungen bildendes Element ist die Gleichsetzung „historischer Fakten“ mit „Wahrheit“, vgl. dazu auch Fußnote 23.

[5] Erich Geldbach: II – 2.1.10 Theologische Ausbildungsstätten des deutschsprachigen Protestantismus außerhalb der Universitäten, in: Michael Klöcker, Udo Tworuschka: Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland. Bd. 2 (16. EL 2007). München 2007, S. 4, 7-10; Wilhelm Faix: Die Konferenz Bibeltreuer Ausbildungsstätten (KBA), in: ETM 9 (2003), H. 2, S. 5-7.

[6] Satzung der Konferenz für bibeltreue Ausbildung im Hochschulbereich (KbAH), beschlossen am 12.9.1987 in Tübingen. Maschinenschriftl.; Archiv der Deutschen evangelischen Allianz: Akte „Konferenz für Bibeltreue Ausbildung im Hochschulbereich“.

[7] Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten, Glaubensgrundlagen, http://www.kbaonline.de/index.php?id=11 (15.1.2015).

[8] Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten, Ausbildungsstätten, http://www.kbaonline.de/index.php?id=15 (15.1.2015).

[9] Erich Geldbach: Protestantischer Fundamentalismus in den USA und Deutschland. Münster u.a. 2001, S. 132-134.

[10] Friedhelm Jung: Die deutsche Evangelikale Bewegung. Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie. Bonn, 3. erw. Aufl. 2001, S. 182.

[11] Ebd., S. 179-183 u.ö.

[12] So konstatiert z.B. Wilfried Joest in dem TRE-Artikel „Fundamentalismus“, im Gegensatz zu christlichen Fundamentalisten seien Evangelikale im Wesentlichen keine Anhänger der Verbalinspirationslehre (Wilfried Joest: Fundamentalismus, in: TRE 11 [1983], S. 732-738).

[13] Thomas Schirrmacher: Einführung in die Chicago-Erklärungen, in: Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicagoerklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung/ übersetzt und hrsg. von Thomas Schirrmacher. Bonn 22004, S. 9-16, hier S. 14.

[14] Artikel III der „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel (1978)“, in: Reinhard Hempelmann (Hg.): Handbuch der Evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden. Deutschland – Österreich – Schweiz. Stuttgart 1997, S. 370-373, hier S. 370.

[15] Bibeltreue in der Offensive. Die drei Chicagoerklärungen zur biblischen Irrtumslosigkeit, Hermeneutik und Anwendung/ übersetzt und hrsg. von Thomas Schirrmacher. Bonn 22004, S. 19.

[16] Ebd., S. 37-44.

[17] Ebd., S. 69-87.

[18] Ebd., S. 59f.

[19] Die Bibel will die Selbstsicherheit des Menschen in Frage stellen, in: IDEA.S Nr. 51/52 vom 19.6.1992, 10. Das Problem an dem evangelikalen Ansatz, man müsse nur die Bibel lesen, dann verstehe man schon, was Gott meine, ist ein doppeltes: Die Aussage bildet zum ersten die eigentliche Grundlage davon, dass die Bibel als Autorität angesehen wird und nicht umgekehrt. Mit einer derartigen quasi a priori Annahme wird aus der Schrift die Autorität herausgelesen, die ihr zugesprochen wird, was dann wiederum die Grundannahme bestätigt. Aber das evangelikale Dilemma ist zum zweiten, dass es nicht zu einer Analyse der eigenen Verstehensvoraussetzungen kommen kann, da es in einem Zirkelschluss dezidiert vermieden wird, sich damit zu beschäftigen, weil das eine dem Wort Gottes gegenüber nicht angemessene Anthropologisierung bedeute. Jedes weitere Nachdenken darüber kann dann mit dem Argument, das Wort Gottes nicht von menschlichen Verstehensvoraussetzungen abhängig machen zu wollen, abgewiesen werden.

[20] Hellmuth Frey: Die Krise der Theologie. Historische Kritik und pneumatische Auslegung im Lichte der Krise. Sechs Vorträge. Wuppertal 1971, S. 80.

[21] Brief von Otto Rodenberg an Helgo [Lindner] vom 9.11.1963. Maschinenschriftl., hier Bl. 2-4; Archiv des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Kassel: II, Dienste und Mitarbeit, 6. Betheler Kreis, Nr. 261: Geschichtliches Werden.

[22] Gerhard Maier, Biblische Hermeneutik. Wuppertal 52005, S. 40.

[23] Ein weiterer Dozent an der Freien Theologischen Hochschule Gießen, der Neutestamentler Armin D. Baum, trug 1999 eine publizistische Kontroverse um eine sachgemäße Bibelauslegung mit dem Professor für Neues Testament in Bielefeld, Andreas Lindemann, aus, die 2004 von dem Neutestamentler Ingo Broer in einem Festschriftaufsatz mit dem Titel „Das Schriftverständnis bei christlichen Fundamentalisten“ analysiert wurde. Nach Broer gehen die Ansichten Lindemanns und Baums besonders extrem bei der Frage auseinander, ob die „Evangelisten die Absicht hatten, in ihren Werken Fakten zu berichten“ oder ob „es ihnen um die Bezeugung ihres Glaubens ging“ (Ingo Broer: Das Schriftverständnis bei christlichen Fundamentalisten, in: Sigrid Baringhorst, Ingo Broer [Hg.]: Grenzgänge[r]. Beiträge zu Politik, Kultur und Religion. Festschrift für Gerhard Hufnagel zum 65. Geburtstag. Siegen 2004, S. 337-421, hier S. 404). Broer merkt dazu an, es sei nicht verantwortbar, „die Irrtumslosigkeit der Schrift einfach mit heutigem historischen Verständnis zu vermischen.“ (Ebd., S. 407). Auch dieses Problemfeld berührt einen zentralen Punkt der evangelikalen Bibelauslegung seit den 1950er und 1960er Jahren: der der Historizität und „historischen Tatsache“ zugesprochene Absolutheitsanspruch. Die Vereinnahmung von Historizität als Maßstab des „Wirklichen“ ist seit den Debatten über Bultmanns Entmythologisierungskonzept symptomatisch für eine Bibelinterpretation, die den Historismus des 19. Jahrhunderts aufnimmt.

[24] Zitiert nach Joachim Cochlovius: Evangelische Allianz, in: TRE 10 (1982), S. 650-656, hier S. 651.

[25] Zitiert nach Joachim Cochlovius: Das Selbstverständnis der Evangelischen Allianz in der Gründerzeit und heute. Die Hauptbeschlüsse der Londoner Gründungsversammlung 1846 im Vergleich mit der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz von 1972, in: Freikirchenforschung 10 (2000), S. 157-166, hier S. 157.

[26] Ulrich Kunz (Hg.): Viele Glieder – ein Leib. Kleinere Kirchen, Freikirchen und ähnliche Gemeinschaften in Selbstdarstellungen. Stuttgart 31963, S. 371.

[27] Roger J. Busch: Einzug in die festen Burgen? Ein kritischer Versuch, die bekennenden Christen zu verstehen. Hannover 1995, S. 111.

[28] Die Evangelische Allianz in Deutschland, Basis des Glaubens, http://www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html (15.1.2015).

[29] Bibelbund, Über uns, Unsere Ziele, http://bibelbund.de/der-bibelbund/uber-uns/ (16.1.2015).

[30] Allianz-Kreise gehen auf Distanz zu bibeltreuem Lager, in: Informationsdienst des Bibelbundes TOPIC 6 (2003), http://www.bibel-center.de/bibeltreue/Topic2003_06.pdf (17.1.2015).

[31] Die aktuelle Diskussion um den Begriff „bibeltreu“ gewinnt an Schärfe, in: Informationsdienst des Bibelbundes TOPIC 6 (2002), http://www.bibel-center.de/bibeltreue/Topic2002_06.pdf (17.1.2015).

[32] Thomas Jeising: Irrtumslos trotz Fehlern? Die Lehre von der Verbalinspiration und der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift trotz fehlender Urschriften und fehlerhafter Abschriften. Teil 2., in: Bibel und Gemeinde 108 (2008), H. 4, S. 3-13, hier S. 7.

[33] Die aktuelle Diskussion um den Begriff „bibeltreu“; vgl. zu der Auseinandersetzung auch Geldbach, Theologische Ausbildungsstätten, S. 29-32.

[34] Heinzpeter Hempelmann: Gemeinsame Liebe. Wie Evangelikale die Autorität der Bibel bestimmen. Eine Antwort an Thomas Schirrmacher. Bad Liebenzell 2001, S. 102.

[35] Ebd., S. 93f.

[36] Ebd., S. 89.

[37] Die aktuelle Diskussion um den Begriff „bibeltreu“.

[38] Helge Stadelmann: Evangelikales Schriftverständnis. Die Bibel verstehen – der Bibel vertrauen – der Bibel folgen. Hammerbrücke 2005, S. 21-26.

[39] Ebd., S. 75.

[40] Ebd., S. 126.

[41] Ebd., S. 133.

[42] Ebd., S. 134.

[43] Ebd., S. 240.

[44] Ebd., S. 293-326.

[45] Ebd., S. 345.

[46] Ebd., S. 357-390.

[47] Christoph Raedel: Die Bibel in der ethischen Urteilsbildung. Konzeption und exemplarische Konkretion, in: JETh 27 (2013), S. 69-122, hier S. 94.

[48] Ebd., S. 93.

[49] Rodenberg war trotz seiner Auseinandersetzung mit den Vertretern des „Wortfundamentalismus“ Anfang der 1960er Jahre auch später aktiver Mitarbeiter innerhalb der „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ und schied nicht aus der evangelikalen Bewegung aus, auch wenn er teilweise gravierend andere theologische Standpunkte als der evangelikale Mainstream seiner Zeit vertrat.

[50] Dietz, Bibel, S. 9.

[51] Ebd., S. 7.

[52] Ebd., S. 8.

[53] Jung, Die deutsche Evangelikale Bewegung, S. 176-178.

[54] Vgl. Fußnote 7.

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