Der Papst hat am 3. Oktober 2020 seine Enzyklika „Fratelli tutti“ in Assisi unterschrieben und ließ sie am 4. Oktober veröffentlichen. „Fratelli tutti“ ist die dritte Enzyklika des argentinischen Papstes, die letzte, „Laudato si“, wurde 2015 veröffentlicht. Das war ein starker Text über die Umweltzerstörung und deren Titel hatte sich Franziskus von dem  „Sonnengesang“ des Franz von Assisi (etwa 1182 – 1126) ausgeliehen. „Fratelli tutti“ nimmt ebenfalls ein Wort des Franz von Assisi auf und kann als Ergänzung zu „Laudato si’“ gelesen werden. Die ökologische Frage wird hier nicht mehr aufgenommen, sondern durch einen Blick auf die unmittelbaren gesellschaftlichen Phänomene ergänzt. Der Stil ist weniger analytisch, sondern von vielen persönlichen Reflexionen und Erfahrungen gespeist. Die Erfahrungen von Lateinamerika und die Fragestellungen, die an der Amazonassynode diskutiert wurden, scheinen an vielen Stellen durch. Interessant ist, dass ca. zehn verschiedene Bischofssynoden aus aller Welt zitiert werden. Man sieht das Bemühen, die weltweite, dezentralisierte, kirchlich-hierarchische Kompetenz einfliessen zu lassen.

Die Enzyklika widmet sich den aktuellsten gesellschaftlichen Entwicklungen, die global gesehen, durch die Corona-Pandemie verstärkt, in ihrer negativen Dynamik in die Kritik genommen werden. Franziskus fordert eine geschwisterliche Gesellschaft, die nach der Corona-Krise nicht einfach so weitermacht, wie vorher. In markanten und scharfen Worten verurteilt der Papst die Folgen einer rein profitgetriebenen, technokratischen und neoliberalen Globalisierung. Seine Ansicht ist aus vielen früheren Reden und Texten bekannt, die auch reichlich zitiert und in einen größeren Rahmen gestellt werden. Es ist eine Entwicklung, so der Papst, die entsolidarisiert. Dabei beschreibt er den Populismus, den Verfall der Debattenkultur, den wachsenden Nationalismus, den Rassismus, die Kommunikation in den sozialen Medien etc. Er sieht diese Phänomene alle vom selben Geist geprägt. Sie sind Reaktionen auf die Globalisierung, die geschichtliche und kulturelle Entwurzelung mit sich brachte. Sie geben Heimat vor, schotten jedoch ab und berücksichtigen nur die eigene Gruppe, führen in einen neuen Nationalismus. Die Enzyklika steht also für eine alternative Globalisierung: Solidarität aller Menschen über nationale Grenzen hinweg, radikal gleiche Würde aller, Engagement für das Gemeinwohl, Pflege der unterschiedlichen Kulturen, die Beheimatung geben, jedoch sich nicht gegeneinander abschotten. Damit eine vielfältige globale Welt entsteht, ist es notwendig, dass der Mensch sich der ganzen Wirklichkeit stellt, die konkrete Begegnung, das Gespräch und den Austausch über alle Grenzen hinweg immer wieder neu wagt. Der Papst plädiert für eine nachhaltige humanistische Bildung, die sich immer am Gegenüber ausrichtet, nie nur das Individuum im Blick hat. Weil der Mensch in Kollektiven eingebettet ist und diese Kollektive auch immer wieder miteinander in Auseinandersetzung geraten, brauche es vor allem Bemühungen der Versöhnung. Daher widmet die Enzyklika ein eigenes Kapitel der Konfliktbewältigung. Klar spricht sie sich darin aus, dass Krieg angesichts der technischen Vernichtungswaffen und der globalen Vernetzung heute kein Weg der Konfliktlösung ist. Franziskus stellt sich nochmals gegen die Todesstrafe wie auch gegen die lebenslange Haft. Immer wieder soll der Mensch eine neue Möglichkeit erhalten, neu gebildet und integriert zu werden. So hat der Text sehr pointierte Aussagen zu verschiedenen ethischen Fragen. Gerade auch die Aussagen zur Migration als Quelle der kulturellen Bereicherung sind lesenswert.

Die Enzyklika wendet sich aber nicht nur an Katholiken, sondern an alle Menschen guten Willens – wie weiland erstmalig Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in Terris. Wirklich neu ist, dass er erstmals einen führenden Vertreter einer anderen Religion als Inspirationsquelle für seine Enzyklika nennt: den Großscheich der Al-Azhar-Universität in Kairo, Ahmad Muhammad al Tayyeb. Aber auch Martin Luther King und Mahatma Ghandi. Seine Zusammenarbeit mit dem Kairoer Großscheich führte zur Erklärung der Brüderlichkeit von Abu Dhabi im Februar 2019. Als Frucht der islamisch-katholischen Zusammenarbeit stellt Franziskus den Text auch dar, wenn er sich auf Franz von Assisi und auf Charles de Foucault bezieht, die ihre Spiritualität der Geschwisterlichkeit in der Begegnung mit dem Islam formuliert haben. Wenn die Enzyklika gegen Ende hin die Religionen in den Dienst der Friedenarbeit stellt, religiöse Gewalt verurteilt, betont, dass im interreligiösen Dialog die Frucht das soziale Engagement sein soll, und Religionen zwar die Autonomie der Politik anerkennen, doch alle Bereiche der menschlichen Existenz, auch jene der Politik prägen sollen, ist der Text zugleich ein Statement darüber, wie Franziskus islamisches und christliches Engagement in der Welt sieht. Die Religionen werden als Traditionen stark gemacht, die in der Krise von heute mit ihren Werten Freundschaft, Solidarität und politisches Handeln stärken können. Mit dem Aufruf zu sozialer Gerechtigkeit für Minderheiten, für einzelne Bevölkerungsgruppen und für die Opfer der Geschichte aus dem Dokument von Abu Dhabi endet der Text. Es hat eine große Symbolkraft, dass die Enzyklika in der Wiedergabe einer gemeinsamen Erklärung mündet, die der Papst und der führende sunnitische Gelehrte im Februar 2019 unterzeichnet haben.

Auch wenn das Erscheinen der Enzyklika mehrheitlich sehr positiv aufgenommen wurde, so hat es doch auch kritische Bemerkungen gegeben. So wurde zu recht moniert, dass die Geschwisterlichkeit, die die Enzyklika einfordert, nicht schon im Titel auftaucht, der nur von Brüderlichkeit redet. Ein weiterer Kritikpunkt ist die „ekklesiologische Rückbindung“ der Forderungen nach Geschwisterlichkeit. So meinte der Münchner Kardinal Marx bei einer Diskussionsveranstaltung in München am 5. Oktober, dass alle Prinzipien der Menschenwürde und der Personalität, die in der Gesellschaft gelten, von der Kirche im Niveau nicht unterlaufen werden dürften Es könne nicht sein, dass etwa in der Kirche hingenommen werde, dass von oben nach unten regiert werde, während zugleich von ihr der Appell komme, in der Gesellschaft müsse auf Dialog geachtet werden.

Martin Bräuer

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