„Betreten der Baustelle verboten“. Ein gelbes Baustellenschild leuchtet auf der Außenplane des weißen Zeltes, das dem Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) auf dem 102. Katholikentag zur Verfügung gestellt wurde. Auf der Kirchenmeile in der Stuttgarter Innenstadt, auf der sich zahlreiche Initiativen, Verbände und Organisationen vorstellen, entscheiden sich die Vertreter:innen der katholischen Betroffenenarbeit, in dieser Form auf die unabgeschlossene Aufarbeitung der Kirche hinzuweisen.
Das Bild der Baustelle steht symptomatisch für die Situation des deutschen Katholizismus. Ob die erfahrene Ordensschwester oder die junge Pfadfindern – im Gespräch mit den Teilnehmenden findet sich kaum eine Person, die nicht erheblichen Veränderungsbedarf in ihrer Kirche sieht. Neben der Aufarbeitung der zahlreichen Missbrauchsfälle stehen dabei die Reformanliegen des Synodalen Weges im Zentrum. Als Irme Stetter-Karp, die Präsidentin des Zentralrats der deutschen Katholiken (ZdK), bei ihrer Eröffnungsansprache die Gleichstellung von Frauen und Männern innerhalb der Kirche fordert, erhält sie langanhaltenden Applaus. Damit ist der Ton gesetzt für die kommenden Tage, in denen immer wieder die Bedeutung der Frauen, der LGBTQ-Gemeinschaft und der Laien von den Teilnehmenden der Podien und Veranstaltungen angemahnt wird.
Es gab Zeiten, in denen Reforminitiativen „Katholikentage von unten“ organisierten, um ihren Reformanliegen, die sie in dem offiziellen Programm nicht ausreichend berücksichtigt sahen, eine Öffentlichkeit zu geben. Diese Zeiten sind vorbei: Ein großer Teil der offiziellen Veranstaltungen beschäftigt sich mit dem Reformbedarf der Kirche – auch außerhalb der Themen des Synodalen Weges. So ruft etwa die Dogmatikerin Dorothea Sattler, eine der führenden ökumenischen Stimmen des deutschsprachigen Katholizismus, auf zahlreichen Podien dazu auf, nicht auf „paradiesische Zeiten“ zu warten, sondern bereits jetzt in der Ökumene zu leben, was möglich sei. Bei den Podien, die sich mit dem Papier „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ des Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen (ÖAK) befassen, wird der Forderung einer baldigen eucharistischen Gastfreundschaft Nachdruck verliehen.
Die Initiativen außerhalb der Amtskirche sind trotzdem weiter wahrnehmbar. Beim Kirchenmeilen-Stand von „Wir sind Kirche“ treten etwa die Stimmen auf, die auch in den Medien immer wieder ein zügigeres Tempo bei den kirchlichen Reformen anmahnen: Der Kirchenrechtler Thomas Schüller betrachtet kritisch Kardinal Rainer Maria Woelkis Umgang mit dem kirchlichen Vermögen. Der Systematiker Hermann Häring spricht über „Reformblockaden und kirchliches Menschenbild“. Und Dogmatikerin Julia Knop leuchtet die Chancen des kirchlichen Transformationsprozesses aus.
Dass sich die römisch-katholische Kirche in solchen einem Transformationsprozess befindet, steht außer Frage. Sollen die Teilnehmenden aber artikulieren, worin genau der Reformbedarf besteht, fallen die Antworten vielschichtig aus. Manche wünschen sich reformfreudigere Pfarrer vor Ort. Viele blicken mit Skepsis auf die immer weiter wachsenden Großpfarreien. Die Sorge um das nachlassende ehrenamtliche Engagement und die wegbrechende Jugend wird von fast allen Ehrenamtlichen vor Ort zum Ausdruck gebracht. Eine Situation, die sich an vielen Orten durch die Pandemie noch verschärft hat. Kirchenpolitisch ist den einen die stärkere Beteiligung der Laien bei kirchlichen Entscheidungen wichtig, andere wollen sich nur noch engagieren, wenn schließlich auch Frauen zu Priesterinnen geweiht werden. Die zahlreichen Forderungen amalgamieren in einem grundlegenden Ruf nach Reform, der in Stuttgart mit immer größerem Nachdruck artikuliert wird.
Es ist offensichtlich, dass die entstehende öffentliche Stimmung auch die anwesenden deutschen Bischöfe unter Druck setzt. Gebhard Fürst, als Bischof des Bistums Rottenburg-Stuttgart quasi Gastgeber des Katholikentags, versichert einmal mehr, dass man die Reformanliegen des Synodalen Weges ja bereits an vielen Orten in den Diözesen umsetze. Natürlich könne er nicht, wie gefordert, am nächsten Tag einfach 20 Frauen zu Diakoninnen weihen. Aber wenn der Synodale Weg schließlich mit den notwendigen Mehrheiten auch die Weihe von Frauen fordere, wäre dies ein starkes Zeichen, auch angesichts der Beschlüsse der Würzburger Synode 1971 bis 1975. Deren Reformanliegen sei von Rom nie beantwortet worden – also auch nicht negativ. Es bleibt bei dem Gefühl, dass da mehr als ein Bischof mit dem Rücken zur Wand steht.
Viele Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz, die den auf dem Synodalen Weg geforderten Reformen deutlich kritischer gegenüberstehen, sind gar nicht erst nach Stuttgart gekommen. Kölns Kardinal Rainer Maria Woelki und Regensburgs Bischof Rudolf Voderholzer gehören dazu. Ihr Fernbleiben erinnert daran, dass die Teilnehmerschaft der Katholikentage nicht repräsentativ für den gesamten deutschen Katholizismus ist. Neben der großen Zahl derjenigen, die sich selbst nicht zum kirchlich-engagierten Kern zählen, fehlt auch die Gruppe eines eher traditionalistischen Lagers.
So dauert es lange, um eine grundlegend kritische Stimmen zum Synodalen Weg in Stuttgart zu finden. Fündig wird man schließlich im kleinen Raum Ulm des Hauses der Wirtschaft. Es ist einer der kleinsten Veranstaltungssäle, die in diesen Tagen genutzt werden. Etwa 15 Menschen hören die Stimme von Ivica Raguž, Fundamentaltheologe aus dem kroatischen Ɖakovo. Raguž spricht von einer anthropozentrischen „Kultur des Genusses“, dem auch die deutsche Theologie verfallen sei. So sei es etwa bei der Eröffnung des Katholikentags von humanitären Anliegen, aber kaum von Gott und gar nicht von Jesus Christus die Rede gewesen. Er nehme eine „Hollandisierung“ der deutschen Kirche wahr. Auch die Kirche in den Niederlanden sei einmal stark gewesen und jetzt faktisch inexistent. Eine Anpassung der kirchlichen Lehre werde diese Krise nicht lösen. Der gegenwärtige Liberalismus, wie er auch beim Synodalen Weg zum Vorschein komme, sei für die Kirche genauso gefährlich, wie es Nazismus und Kommunismus in der Vergangenheit gewesen sein. Raguž‘ Sätze sind provokant, teilweise grenzüberschreitend. Doch sie sprechen viele der kleinen Zuhörerschaft an. So beklagt eine Mutter in der anschließenden Diskussion das Fehlen jeglicher Werte in der aktuellen Pädagogik. Wenn der Kroate vor einem Relativismus der Werte warnt und auch die aktuellen Missbrauchsfälle als Ausdruck einer grundlegenden kulturellen Krise wertet, erinnern seine Ausführungen an die Anhängerschaft Benedikts XVI., die in der römischen Kurie Einfluss hat, aber in Stuttgart kaum zu hören ist. Eingeladen wurde Raguž von den vier katholischen Gemeinden kroatischer Sprache in Stuttgart. Ihre Vertreterinnen weisen darauf hin, dass die Stimme der nichtdeutschsprachigen Katholik:innen weder auf dem Katholikentag noch beim Synodalen Weg ausreichend zu hören sei. Bei den gegenwärtigen Reformdiskussionen solle doch auch die Stimme der Weltkirche ausreichend einbezogen werden.
Ob die Weltkirche tatsächlich den Reformen des Synodalen Wegs entgegenstehen, wird an mehreren Orten in Stuttgart kontrovers diskutiert. Die anwesenden Stipendiat:innen des Katholischen Akademischen Austauschdienstes (KAAD) beweisen, dass diese Wahrnehmung differenziert werden muss. So verweist der kenianische Stipendiat Christopher Otieno Omolo darauf, dass in Afrika zwar das Thema Homosexualtität längst nicht so offen diskutiert werde wie in Deutschland. Dafür seien andere sexualethische Themen wie die Stellung der Kirche zu Verhütung und Polygamie von hoher Bedeutung. Auch würden nun immer mehr Laienräte eingerichtet, um ein Gegenüber zum jeweiligen Klerus zu schaffen. KAAD-Präsident Hans Langendörfer verweist darauf, dass viele junge Menschen weltweit die Reformanliegen des Synodalen Weges teilten, auch wenn sie die Themen teilweise anders priorisierten. Dies habe eine Studie gezeigt, die der KAAD bei 600 seiner Stipendiat:innen durchgeführt hat.
So ist auch auf dem Katholikentag sichtbar, dass beim häufig wiederholten Argument der weltkirchlichen Verantwortung klar zwischen den Ortskirchen weltweit und der Haltung der römischen Kurie zu differenzieren ist. Bei beiden handelt es sich wiederum um komplexe Systeme. Der Vertreter des Papstes in Deutschland, Nuntius Nikola Eterović, verlas zwar das Grußwort von Franziskus und nahm an mehreren Messen teil, war allerdings nicht auf einem inhaltlichen Podium vertreten. Bei der letzten Vollversammlung des Synodalen Weges hatte der Erzbischof noch kritische Anmerkungen zum Verlauf des Synodalen Weges vorgetragen.
So war letztlich die Zahl der konservativen Stimmen auf dem Katholikentag überschaubar. Traditionsgemäß führt dies dazu, dass das Christentreffen die Funktion der Selbstvergewisserung derjenigen, die sich kirchliche Reformen wünschen, erfüllen kann. Die Tage in Stuttgart mit dem offiziellen Motto „leben teilen“ nutzten vielen Teilnehmenden dazu, einmal Luft zu holen von der oft als herausfordernd empfundenen Situation in den Ortspfarreien. Andererseits dienten sie dem ZdK als Bestätigung und Legitimation seines kirchenpolitischen Kurses, der gegenwärtig in die Frage mündet, ob auf den Synodalen Weg möglicherweise die Einrichtung eines Synodalrats folgend kann, der das kirchliche Leben im deutschen Katholizismus weiter begleiten könnte.
Dass schließlich insbesondere die Frage der Missbrauchsaufarbeitung innerhalb der Kirche weiterhin einer Baustelle gleicht, wie von dem Betroffenenbeirat der DBK insinuiert, zeigte sich leider auch während der Tage in Stuttgart. Nachdem ein Artikel der ZEIT-Beilage Christ und Welt kurz vor Beginn des Katholikentags offengelegt hatte, dass der Limburger-Bischof und DBK-Vorsitzende Georg Bätzing einen Priester zum Bezirksdekan ernannt hat, dem sexuelle Belästigung in mindestens zwei Fällen vorgeworfen wird, blieb das Thema auch in Stuttgart zentral. Bätzing reagierte zerknirscht auf die Vorwürfe, nannte jede Form des sexuellen Übergriffs ein „no go“ und versuchte, die von ihm ausgesprochene Ernennung zu rechtfertigen. Ausräumen konnte er die entstandenen Irritationen aber auch bei der Schlusspressekonferenz des Katholikentags nicht. Ob er die Ernennung rückgängig machen werde, ließ er offen. Er nehme das Thema am Sonntag mit nach Limburg, um dort weiter zu entscheiden, was er tue und nicht tue. Die Arbeit an der Baustelle geht weiter.