Die Russisch Orthodoxe Kirche und das Zarentum
Mit der Krönung Iwans VI. 1547 begann die knapp 400jährige Epoche des russischen Zarentums, dessen außenpolitische Rolle stets zwischen der Anbindung und der Distanzierung zu den europäischen Mächten schwankte. Durch die enge Verbindung der Staatsmacht mit der ROK wirkte sich das unmittelbar auf die Kirche aus. In der Regierungszeit Zar Peters I. (1672-1725) von 1682 bis 1725 setzte die so genannte „Europäisierung Russlands“ ein. Kirchenpolitisch hatte das zur Folge, dass der absolutistische Monarch besonders in der letzten Periode seiner Wirkungszeit gravierende Kirchenreformen nach europäischem Vorbild einleitete. So hielt Peter I. seit dem Tod des Patriarchen Adrian, Metropolit von Kazan, im Jahr 1700 das Amt des höchsten Geistlichen vakant und ließ es durch einen Administrator und Verweser verwalten. 1721 ersetzte er es offiziell durch ein Geistliches Reglement/Kollegium, später den Heiligen Synod, der 1723 auf Bitte des Zaren durch die Patriarchen von Konstantinopel und von Antiochien als orthodoxes Gremium mit allen Rechten eines Patriarchats anerkannt wurde. Diese Oberste Kirchenleitung in Russland unterstand der vollständigen Kontrolle der weltlichen Macht und war bis 1917 das Leitungsorgan der ROK. Die Idee dazu entlehnte Peter I. dem Kollegienprojekt von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), allerdings hatte der stete Widerstand, den die Kirche seinen prowestlichen Reformen von Anfang an entgegensetzte, die Aversion des Zaren gegen die ROK im Laufe seiner Regierungszeit verstärkt.[1] Trotz ihrer tiefen orthodoxen Frömmigkeit änderte die russische Kaiserin Elisabeth (1709-1762) in ihrer Regierungszeit von 1741 bis 1762 nichts an dieser von ihrem Vater eingeführten Struktur: Ein Oberprokurator leitete die kirchlichen Angelegenheiten und das Konsistorialsystem wurde weiter ausgebaut. Unter ihrem Nachfolger Peter III. (1728-1762) wurde ganz im Sinne der europäischen Aufklärung die Säkularisation der Kirchengüter eingeführt – eine Maßnahme, die seine Frau Katharina II., die Große, (1729-1796) nach anfänglichem Zögern mit einem diesbezüglichen Erlass (Ukaz) von 1764 forcierte. Allerdings verbesserte sich die Situation für die Pfarrerschaft durch die Volkszählung und die Gemeindeerhebungen unter Katharina II. insofern, als dass nun u.a. erstmalig Zahlen vorlagen, auf Grund derer Bestimmungen zur Anzahl von Geistlichen nach Stärke der Gemeinden erlassen und Vakanzen besetzt werden konnten.[2]
Die strukturellen Eingriffe des Staates in die ROK berührten im Allgemeinen allerdings kaum die Gemeindeebene. Hier war nach wie vor der Bischof die oberste Instanz und Autorität, mitunter weitestgehend unabhängig von Moskauer Direktiven. Vor diesem Hintergrund versuchte der Minister des Inneren und Oberprokuratur Graf Dimitri Andrejewitsch Tolstoi (1823-1889) im 19. Jahrhundert die Situation des einfachen Klerus gegenüber der „despotischen Willkür der Bischöfe“ zu verbessern. Manche Kirchenreformen waren also „nicht dem Episkopat, sondern ausschließlich dem Staate zu verdanken“.[3]
Im 19. Jahrhunderts, dem „Jahrhundert der Nationen“, entwickelte sich auch in Russland ein starker Nationalismus, in Folge dessen eine Abwendung vom vermeintlich säkularen Westen erfolgte. Die Kritik an Europa überwog in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und es wurde, flankiert von Großmachtvorstellungen, die Sammlung des Slawentums propagiert. Ein „übertriebene[r] Konservatismus“ kennzeichnete diese Zeit, „der in jeder Korrektur des herrschenden Systems ein Zeichen des Liberalismus und ein Verlassen der orthodoxen Tradition erblickte”[4], und auch die „kirchlichen Bestrebungen bekamen einen starken nationalen Unterton“.[5]
Eine erste massive Erschütterung im Staat-Kirche-Verhältnis stellte die erste russische Revolution im Jahr 1905 dar. Im selben Jahr erließ Nikolaus II. (1868-1918), der 1917 abdankte, ein Edikt zur Glaubenstoleranz, das die freie Religionsausübung und Wahl der Konfession gestattete. Dadurch befand sich die ROK nun in einer völlig neuen Situation in Konkurrenz mit anderen Glaubensgemeinschaften und Kirchen. 1917 wurde von einem russisch-orthodoxen Konzil erstmals seit der Abschaffung unter Peter I. wieder ein Patriarch der ROK eingesetzt.[6] Die Oktoberrevolution schuf allerdings binnen kurzer Zeit neue Verhältnisse. Im Januar 1918 wurde von der Sowjetregierung, ohne Absprache mit der Kirche, das Gesetz „Über die Trennung der Kirche vom Staat“ erlassen und nahm ihr auf einen Schlag ihre privilegierte Stellung innerhalb des Staates und der Gesellschaft. Dies sollte der Auftakt zu einer der größten Christenverfolgungen des 20. Jahrhunderts werden.
PD Dr. Gisa Bauer, Bensheim
[1] Igor Smolitsch: Geschichte der Russischen Kirche 1700-1917. Leiden/Netherlands 1964, 57-76.
[2] Ebd., 449-451.
[3] Ebd., 304.
[4] Ebd.
[5] Stupperich, Überblick, 47.
[6] Vgl. dazu Metropolit Pitirim, Die russische orthodoxe Kirche, 59-64.