Wer im kirchlichen Umfeld etwas von den „orthodoxen Kirchen“ hört, denkt meist an die griechisch-orthodoxen oder an die russisch-orthodoxen Christen. Es gibt aber auch noch eine Gruppe von orthodoxen Kirchen, die sich seit dem 6. Jahrhundert von den sogenannten byzantinischen orthodoxen Kirchen getrennt entwickelt haben. Ihre Ursprünge liegen in Gebieten, die geographisch am Rande des damaligen Römischen Reiches lagen. Heute sind dies folgende sechs Kirchen: die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien, die Koptische Orthodoxe Kirche, die Armenisch-Apostolische Kirche, die Äthiopisch-Orthodoxe
Tewahedo-Kirche, die Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche und die Malankara Orthodox Syrische Kirche (auch als Indisch-orthodoxe Kirche bekannt). Diese Gruppe von Kirchen, die jeweils in ihrem Erscheinungsbild und in ihrer Theologie und Spiritualität eine eigene Prägung haben, werden im ökumenischen Sprachgebrauch unter der Bezeichnung „orientalisch-orthodoxe Kirchen“ zusammengefasst. Was sie verbindet, ist ihre Ablehnung des vierten Ökumenischen Konzils (Konzil von Chalzedon), das im Jahr 451 stattfand und die Lehre von den zwei Naturen Christi festlegte. Da diese Kirchen im Gegensatz dazu die Einheit der beiden Naturen in einer Person betonten, wurden sie von der damaligen Reichskirche nicht anerkannt. Dazu ist zu bemerken, dass im Zuge der modernen ökumenischen Bewegung festgestellt wurde, dass damals beide Seiten dasselbe Anliegen hatten, aber die Beziehung der beiden Naturen Christi mit unterschiedlichen Denkkategorien zum Ausdruck brachten.
Diese Kirchen sind auch mit Diözesen oder wenigen Gemeinden in Deutschland vertreten und arbeiten in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) mit. Die EKD unterhält seit 1983 einen Kontaktgesprächskreis mit ihnen, der sich vor allem mit praktischen Fragen des ökumenischen Miteinanders beschäftigte. 2017 wurde zum ersten Mal ein Dialogtreffen organisiert, zu dem die Oberhäupter dieser Kirchen aus den Ursprungsländern anreisten.
Am 26./27. März 2025 fand nun in Berlin auf Einladung der EKD eine Dialogbegegnung mit seiner Heiligkeit Katholikos Baselios Marthoma Matthews III., dem Oberhaupt der Indisch-Orthodoxen Kirche statt, an der auch die Orthodoxiereferentin Dr. Dagmar Heller des Konfessionskundlichen Instituts teilnahm. Im Zentrum der Begegnung stand die Frage der “Bedeutung der Diaspora für die Kirchen”. Der Katholikos hob hervor, wie wichtig die Erfahrungen seiner Kirchenmitglieder in der Diaspora für die Mutterkirche in Indien sind. Dr. Elizabeth Joy, Mitglied der Malankara Orthodox Syrischen Kirche und Direktorin von „Churches Together in England“ (dem Pendant der ACK in Deutschland) gab einen eindrucksvollen Einblick in die Arbeit und die ökumenischen Beziehungen ihrer Kirche. „Wir nehmen nicht so oft das Wort ‚Danke‘ in den Mund, wie das in Deutschland getan wird,“ meinte sie. Stattdessen bringe man in Indien die Dankbarkeit in konkreten Taten zum Ausdruck. Bischöfin Kirsten Fehrs betonte in ihrer Ansprache an die Delegation die Brückenbauer-Funktion von Kirchen in der Diaspora und würdigte die Bereicherung durch neue Perspektiven, die sie in die deutsche Gesellschaft einbringen.
An die Tagung schloss sich bis zum 28. März eine Begegnung mit den Vertretern aller orientalisch-orthodoxen Kirchen in Deutschland an, die bereits bei der Begegnung mit dem Katholikos dabei gewesen waren. Dabei machte zum Auftakt der Direktor des Berliner Missionswerkes, Dr. Christof Theilemann, auf die wichtige Integrationsarbeit dieser Kirchen und ihre Funktion als Anlaufstelle für Flüchtlinge aufmerksam. Deshalb sei es wichtig, dass die alteingesessenen Kirchen ihnen beispielsweise ungenutzte Kirchengebäude überlassen und enger mit ihnen zusammenarbeiten.
Von der Koptischen Kirche berichtete Anba Damian von der Sanierung eines Kirchengebäudes in Berlin-Lichtenberg und von der jüngsten Gründung eines Frauenklosters in der Nähe von Höxter. Für neu angekommene Flüchtlinge biete seine Kirche unter anderem Übersetzungshilfe an. Diakon Augin Yalcin, der Vetrter der Syrisch-Orthodoxen Kirche, legte in seinem Bericht den Schwerpunkt auf die Einführung des syrisch-orthodoxen Religionsunterrichts in einigen Bundesländern wie z.B. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, der für die Bewahrung der kulturellen Identität eine große Rolle spielt. Herr Abraham Tezerra von der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche machte deutlich, dass in den letzten zehn Jahren sehr viele äthiopisch-orthodoxe Christen nach Deutschland gekommen seien. Es entstehen neue Gemeinden, die geeignete Räume und Kirchengebäude benötigen.
Aber nicht nur die Situation dieser Kirchen in Deutschland kam zur Sprache, sondern auch die schwierige Situation in den Heimatländern. Diakon Yalcin berichtete von der Verunsicherung der Christen unter dem neuen Regime in Syrien und Erzpriester Dr. Merawi Tebege wie auch der äthiopische Erzbischof Abba Diyonasiyos erzählten von der äußerst schwierigen Situation in Äthiopien, die von Gewalt und Unsicherheit geprägt ist.
Die armenisch-apostolische Kirche war Thema am 28. März mit einer Besichtigung des Lepsius-Hauses in Potsdam. Hier wurde deutlich, wie sehr die armenische Kirche vom Trauma des Genozids von 1915 geprägt ist. Dies spielt bis heute in der Auseinandersetzung mit Aserbaidschan im Konflikt um Berg-Karabach eine Rolle. Johannes Lepsius war Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts einer der wenigen Deutschen, der sich tatkräftig für die Armenier einsetzte.
Für alle diese Kirchen, die teilweise in ihrer jeweiligen Heimat unter großem Druck stehen, spielt die Diaspora in Deutschland eine wichtige Rolle, da sie hier ihre Tradition in Freiheit bewahren und der jungen Generation weitergeben können. Allerdings bedeutet es auch eine große Herausforderung, die eigene Identität in einer wachsend säkularen Gesellschaft zu erhalten und sie mit der Moderne in Einklang zu bringen. Sie bereichern die Ökumene durch ihre uralten Traditionen, die beispielsweise im Nahen Osten inzwischen ernsthaft bedroht sind. Aus diesem Grund sind solche Dialogbegegnungen und der Kontakt zwischen EKD und den orientalisch-orthodoxen Kirchen für beide Seiten unendlich wichtig.
