Kaum zwei Wochen dauerte es von der Bekanntgabe der neuen Erzbischöfin von Canterbury, Sarah Mullally, bis zu neuen dramatischen Entwicklungen in der weltweiten Anglican Communion und innerhalb der Church of England. Damit erhält nicht nur das in zwei Wochen stattfindende Anglikanismus-Seminar des Konfessionskundlichen Instituts (JuFA 2025 „Many Cultures – One Body“) neue Aktualität, sondern die kirchenpolitischen und theologischen Kämpfe in der anglikanischen Welt bekommen eine neue Qualität.
Beide Ereignisse sind inhaltlich verknüpft, aber voneinander unabhängig.
Einführung der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in England vorläufig gestoppt
Am 15. Oktober gaben die Bischöfe der Kirche von England bekannt, dass der “Prayers of Love and Faith”-Prozess, das heißt die mehrjährigen Beratungen zur Einführung liturgischer Formulare für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in seiner jetzigen Form gestoppt und völlig neu gestaltet wird.
Erst im Februar 2023 hatte die trikamerale englische Synode, maßgeblich vorangetrieben durch die Bischöfe, aber bei sehr knappen Mehrheiten in den Kammern des Klerus und der Laien, beschlossen, solche Liturgien probeweise einzuführen. Danach schlugen die Wellen in England und in der anglikanischen Welt hoch. Weil England als Mutterkirche in der Anglikanischen Gemeinschaft als Erste unter Gleichen gilt, fühlten sich auch andere Provinzen betroffen (“Provinzen“ sind die weltweit 42 unabhängigen anglikanischen Kirchen).
In England bemängelten die Kritiker, dass eine solch tiefgreifende Änderung der Lehre nicht mit knappsten Mehrheiten eingeführt werden dürfe, sondern Zweidrittelmehrheiten verlange. Die Bischöfe allerdings versuchten damals relativ schnell, erste Fakten zu schaffen und entwickelten probeweise Liturgien. Dieser Prozess kam erst zum Stillstand, als Erzbischof Justin Welby im November 2024 aus anderen Gründen zurücktrat und die langwierige Suche nach einem Nachfolger begann.
Nachdem jetzt mit Sarah Mullally eine diplomatisch versierte Nachfolgerin gefunden war, die in ihrer Zeit als Bischöfin von London eine in diesen Streitpunkten sehr heterogene Diözese mit Geschick zusammengehalten hatte, zogen die Bischöfe vorerst die Reißleine. Das heißt konkret, dass die entsprechenden liturgischen Reformen mithilfe anderer kanonischer Regeln und mit stärkerer synodaler Beteiligung erfolgen werden. Das wird wegen der nun erforderlichen Zweidrittelmehrheiten voraussichtlich Jahre dauern.
Dieser Schritt bedeutet nach mehrjährigen Beratungen, gefolgt von rapiden Reformen, eine Zäsur, über die konservative Christen in der Kirche erleichtert, progressive aber tief enttäuscht sind.
Spaltung der Anglican Communion?
Vermutlich ohne Kenntnis, jedenfalls ohne Erwähnung dieser Entscheidung in England gab am nächsten Tag Laurent Mbanda, Erzbischof von Ruanda und Vorsitzender der 2008 unter afrikanischer Führung gegründeten konservativen Organisation Global Anglican Future Conference (GAFCON), bekannt, dass GAFCON künftig alle “Instrumente der Einheit der Anglikanischen Gemeinschaft“ ablehnen und nicht mehr daran teilnehmen werde.
Die Erklärung war ähnlich scharf formuliert wie das sogenannte “Kigali-Commitment” vom April 2023, in dem GAFCON auf die englische Februarsynode reagierte und den Erzbischof von Canterbury offen der bibelwidrigen Irrlehre zieh. Schon damals hatte man erklärt, man werde dessen Ehrenprimat künftig nicht mehr anerkennen und an den Gremien und Versammlungen der Anglican Communion nicht mehr teilnehmen (was man allerdings schon vorher kaum noch getan hatte).
Als am 3. Oktober 2025 Sarah Mullally als neue Erzbischöfin von Canterbury bekannt gegeben wurde, hatte die Gruppe wie erwartet ablehnend reagiert. Sowohl die Wahl einer Frau wie ihre (eher differenzierte als eindeutige) Unterstützung der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare mochte man nicht akzeptieren.
Am 16. Oktober 2025 ging GAFCON nun noch weiter und erklärte unter der triumphalen Überschrift “The Future Has Arrived” die Gründung einer neuen Gemeinschaft, die man “Global Anglican Communion“ nennt. Das Statement geht auf die oben genannte Entscheidung der Church of England vom Vortag nicht ein, hat diese möglicherweise gar nicht zur Kenntnis genommen.
Die Verlautbarung umfasst acht Punkte. Man werde die Anglican Communion reorganisieren und lehne die bisherigen Einrichtungen (Erzbischof von Canterbury, Lambeth Conference, Primates‘ Meeting, Anglican Consultative Council), die die Einheit symbolisieren, ab, da sie es versäumt hätten die Lehre und Ordnung zu bewahren. Man werde außerdem keine Kirchengemeinschaft mit jenen Kirchen haben, die die “revisionistische” Lehre verträten und werde an keinen Treffen teilnehmen, zu denen der Erzbischof bzw. die Erzbischöfin von Canterbury einlade. Man fordert alle Provinzen auf, sich von Canterbury loszusagen und lädt Provinzen und Diözesen (!) auf, sich der neuen “Global Anglican Communion“ anzuschließen.
Man werde aus dem Kreis der Primates (Erzbischöfe) in GAFCON einen neuen Primus inter pares wählen. Dieser soll wohl die – über Jahrhunderte gewachsene – derzeitige Rolle des Erzbischofs von Canterbury übernehmen.
Das Statement gipfelt in dem Satz, der das Selbstverständnis zusammenfasst: “[W]e have not left the Anglican Communion; we are the Anglican Communion.” (Hervorh. i.O.)
Wohin weiter?
Der Anspruch ist also klar formuliert. Das Statement ist es allerdings weniger. So fordert es etwa neben Kirchenprovinzen auch einzelne Diözesen auf, sich ihm anzuschließen. Das wirft organisatorische Fragen auf, die bislang ebenso wenig durchdacht zu sein scheinen wie der Aufbau alternativer Strukturen, die die jetzige gewachsene Anglican Communion ersetzen könnten.
Unklar ist auch, was jetzt passieren wird.
Die Reaktion der Anglican Communion war bemerkenswert konziliant und suchte die Gemeinschaft zu ermutigen. Generalsekretär Bischof Anthony Poggo, der aus Südsudan, einer GAFCON-Mitgliedsprovinz, stammt, deutete an, das Statement sei wohl in Eile verfasst worden und möglicherweise nicht mit allen Mitgliedsprovinzen abgestimmt. Er räumt ein, dass man mit Geduld und Liebe durch Zeiten gehen solle, in denen manche „Mitglieder des Leibes in einiger Entfernung voneinander gehen müssen“ und verwies auf das Nairobi-Kairo-Dokument von 2024. Darin hatte die Anglican Communion weitreichende Reformvorschläge gemacht, die ihr Funktionieren stark dezentralisieren und zum Beispiel die Rolle des Erzbischofs von Canterbury auf mehr Schultern verteilen würden, was den südlichen Kirchen erheblich mehr Gewicht gäbe. GAFCONs Lossagung von Canterbury geht mit keinem Wort auf die Vorschläge im Nairobi-Kairo-Dokument ein.
Wie einig ist GAFCON? Die Gruppe umfasst 12 Provinzen.
Drei mitgliederstarke Provinzen (Ruanda, Nigeria, Uganda) bilden den Kern von GAFCON und haben schon seit 2016 nicht mehr an den Treffen der Communion teilgenommen, für sie ändert sich wenig.
Drei kleine Provinzen sind GAFCON-Gründungen, das heißt sie sind Abspaltungen innerhalb bestehender Provinzen. Sie sind von Canterbury nicht anerkannt und daher ohnehin nicht Mitglied der Anglican Communion.
Hinzu kommen sechs kleinere Provinzen (Alexandria, Chile, Kongo, Kenia, Myanmar und Südsudan). Diese hatten bislang das Tischtuch zu Canterbury keineswegs völlig zerschnitten. Dies aber scheint Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der neuen Global Anglican Communion zu sein. Für sie entstünde also eine völlig neue Situation.
Die Global South Fellowship of Anglican Churches (GSFA)
Möglicherweise hofft GAFCON darauf, dass ein zweites konservatives Bündnis südlicher Provinzen sich anschließen wird. Die 1994 gegründete Global South Fellowship of Anglican Churches (GSFA) steht GAFCON theologisch nahe. Die Mitgliedschaft überschneidet sich zum Teil (u.a. Uganda, Südsudan), ist aber nicht identisch. Auch die GSFA hat sich 2023 im sogenannten „Ash Wednesday Statement“ (https://www.thegsfa.org/news/ash-wednesday-statement-of-gsfa-primates-on-the-church-of-englands-decision-regarding-the-blessing-of-same-sex-unions) von der Church of England und der Communion distanziert. Allerdings formuliert GSFA weniger polemisch als GAFCON und sagt auch: “We will not walk away from the Communion that has so richly blessed us and for whose faithfulness to God and His word our forebears have paid a costly price. What has happened in the Church of England has only served to strengthen our resolve to work together to re-set the Communion, and to ensure that the re-set Communion is marked by reform and renewal.” Das klingt nicht nach endgültigen Spaltungsabsichten.
2023 in Kigali hatte GAFCON eine Verschmelzung beider Gruppen angeregt, was die GSFA allerdings im Folgejahr bei einem Treffen in Ägypten freundlich, aber bestimmt ablehnte. Dort hatte die GSFA vielmehr sich selbst eine Bundesstruktur (“covenantal structure”) gegeben, in der sich anglikanische Kirchen mit “orthodoxer Ausrichtung” verbanden, ohne einen totalen Bruch mit Canterbury zu vollziehen. Unklar ist, wie sich diese Struktur der GSFA nach Ansicht von GAFCON zur neuen Global Anglican Communion verhalten soll.
GAFCONs Ausrufung einer Global Anglican Communion scheint nicht mit der GSFA abgestimmt gewesen zu sein. Vielsagend ist, dass diese bislang noch nicht öffentlich und offiziell darauf reagiert hat. Die Revolution scheint wenig koordiniert.
Die Situation bleibt vorläufig so diffus wie zuvor. Das muss kein Nachteil sein. Seit Jahrhunderten ist eine Stärke anglikanischer Theologie die Kunst, viele Verschiedene zusammenzuhalten, indem man Theologie und Strukturen bewusst vage hält und nicht alles glasklar festschreibt, um auf diese Weise viel Raum für Differenzen zu geben. Insofern muss die Einheit in der jetzigen, immer noch verworrenen Lage vielleicht noch nicht als völlig verloren angesehen werden.