Gleich bei der ersten Gelegenheit – zum Zeitpunkt der letzten Stellenbesetzung 2013 waren Frauen noch nicht zum Bischofsamt zugelassen – hat die Church of England eine Frau in ihr höchstes Amt erhoben. Am 3. Oktober gab das Büro des britischen Premierministers die Berufung der derzeitigen Bischöfin von London, Sarah Mullally, zur Erzbischöfin von Canterbury bekannt.
Das Amt vereint vier Funktionen: Diözesanbischof von Canterbury (dessen operative Aufgaben traditionell der Bischof von Dover übernimmt, derzeit Rose Hudson-Wilkin), Erzbischof der Provinz Canterbury (südliche zwei Drittel Englands), Primas der Church of England (inklusive der Erzdiözese York) und geistliches Ehrenoberhaupt der weltweiten Anglican Communion, bestehend aus 42 unabhängigen Kirchen („Provinzen“).
Die 1962 geborene Mullally wurde ursprünglich als Krankenschwester ausgebildet und arbeitete in diesem Beruf, bis sie von 1999 bis 2004 im Gesundheitsministerium die leitende Verantwortung für die Krankenpflege im Land übernahm. Für ihre Leistungen in diesem Bereich wurde sie 2005 geadelt. Nach einer in England nicht untypischen, relativ kurzen berufsbegleitenden theologischen Ausbildung wurde sie 2001 ordiniert und arbeitete – neben der Aufgabe im Gesundheitsministerium – drei Jahre lang ehrenamtlich als „non-stipendiary minister“ in einer Londoner Gemeinde, bevor sie ins Vollzeitpfarramt wechselte.
Solche Quereinstiege sind in britischen Kirchen der Normalfall; in der Kirche von England liegt das durchschnittliche Eintrittsalter des Klerus zwischen 40 und 50. Bemerkenswert ist aber, dass Mullally eine staatliche Gesamtschule besuchte und nicht, wie viele Vorgänger, eine Privatschule – ein seltener Quereinstieg in die Spitzenetage der Kirche. Sie ist außerdem nach George Carey erst der zweite Amtsinhaber seit dem Mittelalter, der nicht in Oxford oder Cambridge studierte, den traditionellen Kaderschmieden für kirchliche und staatliche Führungspositionen.
Seit dem 2. Weltkrieg war nur ein Amtsvorgänger bei Amtsantritt älter als Mullally: Donald Coggan, 1974 mit 65 Jahren ins Amt gekommen, hatte sich damals selbst bescheiden als „caretaker“ bezeichnet. Mullally bleiben immerhin sieben Jahre, um die Kirche zu gestalten.
Das neue geistliche Oberhaupt der Anglikanischen Weltgemeinschaft kommt nicht als unbekannte Außenseiterin. 2015 gehörte Mullally zu den ersten Bischöfinnen, die ordiniert wurden, und schon 2018 stieg sie zur Bischöfin von London auf, der drittwichtigsten Diözese des Landes, die mit einem Sitz im Oberhaus des Parlaments verbunden ist.
Als besondere Stärke erwies sich ihre Fähigkeit, sogar mit jenen in ihrer Diözese gut zusammenzuarbeiten, die die Bischofsordination von Frauen aus theologischen Gründen ablehnten. Gerade die Diözese London beherbergt theologisch sehr divergierende Gemeinden und Positionen. Mullally war es gelungen, auch jenen konservativen Kräften glaubwürdig Respekt entgegenzubringen, die ihre Rolle nicht anerkannten. Vertreter der entsprechenden theologisch konservativen Gruppen wie etwa Forward in Faith äußerten sich nun zwar zurückhaltend zu ihrer Ernennung, gelobten aber zugleich, das höchstmögliche Maß an Gemeinschaft zu suchen, das unter diesen Umständen möglich sei.
Am meisten öffentliche Aufmerksamkeit im In- und Ausland erregte natürlich dennoch die Tatsache, dass eine Frau ernannt wurde. Tatsächlich kann man das überraschend finden, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der anglikanischen Provinzen keine Bischöfinnen ordiniert und die Frage auch in der englischen Kirche noch immer umstritten ist.
Bei genauerer Betrachtung jedoch ist Mullallys Ernennung zwar symbolisch bedeutsam, aber keineswegs völlig unerwartet. Buchmacher hatten seit Monaten drei Frauen auf den ersten vier Plätzen. Denn die wichtigste der vier genannten Funktionen des Amtes ist die des Primate of All England, also die Führungsrolle innerhalb der Church of England. Diese aber hat seit 2015 bevorzugt Frauen ins Bischofsamt berufen. Sie kamen überproportional häufig, jünger und mit weniger bischöflicher Vorerfahrung (etwa als Suffraganbischöfin) ins Amt als ihre männlichen Kollegen. So kommt es, dass die Kirche heute mit über einem Viertel anteilmäßig viel mehr Bischöfinnen hat als jede andere anglikanische Provinz, auch als die viel progressivere Episcopal Church der USA, die schon 1976 Bischöfinnen zuließ. Der Grund dürfte darin liegen, dass in den anderen Provinzen Bischöfe von Synoden gewählt werden. Nur in England sucht eine hinter verschlossenen Türen beratende staatlich-kirchliche Crown Nominations Commission aus (siehe Materialdienst des Konfesskundlichen Instituts, MdKI 1-2024, S.20 ff). Hier zeigt sich wie auch in anderen Zusammenhängen, dass die Führungsebene der Kirche progressiver tickt als das Kirchenvolk. Man kann also plausibel vermuten, dass die Crown Nominations Commission bevorzugt nach einer Frau gesucht hat, was angesichts mehrerer geeigneter Kandidatinnen nicht schwergefallen sein dürfte. Etwaige Bedenken wegen der globalen kirchenpolitischen Implikationen traten demgegenüber zurück.
Zahlreiche protestantische Kirchen und säkulare Stimmen begrüßten Mullallys Ernennung als Signal für die Stärkung der Frauenordination. Gleichzeitig gab es zurückhaltende Äußerungen, die ihre Laufbahn mit der ihres Vorgängers verglichen – abgesehen von Welbys mehrjähriger Auslandserfahrung. Welby, bisweilen kritisch als „CEO of the Church of England“ bezeichnet, brachte Erfahrungen aus der Ölindustrie mit; Mullally verfügt über Managementkompetenz aus dem Gesundheitsministerium. Kritiker mahnten jedoch, die Kirche leide ohnehin an zu viel „Managerialism“ und zu wenig spiritueller Tiefe.
Der entscheidendere Widerstand kommt jedoch aus den südlichen Provinzen der Anglican Communion, die die Mehrheit der weltweit rund 80 Millionen Anglikaner repräsentieren. Die beiden theologisch konservativen, afrikanisch dominierten Verbände Global Anglican Future Conference (GAFCON) und Global South Fellowship of Anglican Churches (GSFA) sowie ihre nordamerikanischen und europäischen Ableger reagierten auf die Ernennung Mullallys wie erwartet ablehnend.
GSFA kommentierte unter einem wenig schmeichelhaften Bild der Bischöfin: „While we shall of course pray for Bishop Mullally as she assumes this historic position, we feel compelled to say that we feel this appointment is a missed opportunity to reunite and reform the Anglican Communion.“ (Quelle)
Der Erzbischof von Ruanda, Laurent Mbanda, erklärte für GAFCON gewohnt scharf: „[I]t is with sorrow that Gafcon receives the announcement today of the appointment of Dame Sarah Mullally as the next Archbishop of Canterbury. This appointment abandons global Anglicans, as the Church of England has chosen a leader who will further divide an already split Communion. […] Though there are some who will welcome the decision to appoint Bishop Mullally as the first female Archbishop of Canterbury, the majority of the Anglican Communion still believes that the Bible requires a male-only episcopacy. Therefore, her appointment will make it impossible for the Archbishop of Canterbury to serve as a focus of unity within the Communion.“ (Quelle) Tatsächlich wird es einer Bischöfin, die in diesem Bereich keinerlei Amtsmacht hat, schwerfallen, als Symbol der Einheit zu fungieren, wenn viele der beteiligten Kirchen Bischöfinnen grundsätzlich ablehnen.
Praktisch aber ist diese Frage eher sekundär, denn der eigentliche Konfliktpunkt liegt für GAFCON, GSFA und andere in Mullallys Haltung zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Sie ist seit Jahren in leitender Position in die Diskussionen der Church of England über Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare eingebunden und gilt als zentrale Unterstützerin des „Prayers of Love and Faith“-Prozesses. GAFCON formulierte seine Kritik entsprechend deutlich: „[M]ore concerning is her failure to uphold her consecration vows. When she was consecrated in 2015, she took an oath to ‘banish and drive away all strange and erroneous doctrine contrary to God’s Word.’ And yet, far from banishing such doctrine, Bishop Mullally has repeatedly promoted unbiblical and revisionist teachings regarding marriage and sexual morality.“
An der Grundkonstellation ändert sich also wenig. GAFCON hatte schon im Februar 2023 erklärt, den Bischof von Canterbury künftig nicht mehr als spirituelles Oberhaupt anzuerkennen, nachdem die englische Synode die probeweise Einführung von Liturgien zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare beschlossen hatte.
Mullally tritt ein komplexes Erbe an: Die letzten drei Amtsvorgänger hatten bei den „Lambeth-Konferenzen“, den weltweiten Bischofskonferenzen der Anglican Communion, vor allem mit dem wachsenden Widerstand der südlichen Provinzen gegen den progressiven Kurs westlicher Kirchen zu kämpfen. Justin Welby verschob aus Sorge vor offener Spaltung die für 2018 geplante Konferenz, die schließlich erst 2022 stattfand. Aufgrund des zehnjährigen Turnus ist es unwahrscheinlich, dass Mullally einer Lambeth-Konferenz vorstehen wird, aber die Spannungen werden voraussichtlich auch so weiter zunehmen.
Angesichts ihres nachweislich erfolgreichen Wirkens in der sehr heterogenen Diözese London ist davon auszugehen, dass es weder an ihrem mangelnden diplomatischen Geschick noch an ihrem Geschlecht liegen wird, wenn sie das weitere Auseinanderdriften der Anglican Communion nicht aufhalten kann, nachdem sie im März 2026 in der Kathedrale von Canterbury in ihr Amt eingeführt worden sein wird.
Noch zum Thema: Der Verfasser im Deutschlandfunk-Interview zur neuen Erzbischöfin hier.