«Lektüretipps und Kirchenreform – zur Praxisrelevanz des Quellenstudiums in der Kirchengeschichte» lautet der Titel der Antrittsvorlesung, die Reinert aufgrund des Umbaus der Hochschule nicht wie gewohnt in der Aula, sondern in der benachbarten Kreuzkirche gehalten hat. Ganz aktuell nimmt er Bezug auf den «Krisenmodus» und den «Reformalarm» fast aller großen und größeren Kirchen der Gegenwart und betont mit Recht, dass das Gefühl oder die Einschätzung, mit der Kirche der Gegenwart stimme etwas nicht, kein neues sei, sondern ein schon seit Jahrhunderten bekanntes. Immer wieder haben sich Menschen daran gemacht, die Kirche von innen heraus zu reformieren; zur Veranschaulichung dieser These wirft Reinert einen genaueren Blick auf die Zeit zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert.
Der Rundgang beginnt mit Gerard Zerbolt von Zutphen (*1367), einem Vertreter der Devotio Moderna, die ein Leben der Innerlichkeit und Gewissenserforschung propagiert, welches in seinem Fall wesentlich von der Lektüre und Meditation mystischer Texte geprägt war. Die neue Richtung christlichen Lebens entsteht nicht aus der Luft, sondern mittels intensiver Lesearbeit, die bei Zerbolt geradezu sakramentale Bedeutung erhält. Der nächste Vertreter ist Johannes Gerson (*1363), seines Zeichens Kanzler der Pariser Universität und Kritiker hyperrationaler Scholastik, dessen Ziel die Konzentration der Theologie auf das für das geistliche Leben Nützliche darstellt. Diese Art der Konzentration wird in der Forschung als «Frömmigkeitstheologie» bezeichnet. Herz und Verstand müssen interagieren, betont Reinert. Über Johannes von Staupitz, den Beichtvater und Lehrer Luthers, Luther selbst und Johann Arndt gelangt der Referent zum Pietisten Philipp Jakob Spener, der Arndt liest. Es entwickelt sich eine ganze Reihe Reformatoren und Reformer der Kirche und der christlichen Frömmigkeit, die immer wieder dieselben Schriften lesen und sich aufeinander beziehen. Kirchengeschichte, stellt Reinert fest, ist nicht eine Abfolge von Einzelfiguren, sondern eine Vernetzung von Gedanken, Ideen und vor allem der Lektüre derjenigen Bücher, die über Jahrhunderte hinweg immer wieder inspirierend waren.
Zum Schluss, es geht ja kaum anders, landet Reinert bei John Wesley, dem Begründer des Methodismus und damit einer Bewegung, die sich selbst weniger als eine Kirchenreform verstand, sondern vielmehr als eine geistliche Lebensweise. Wesley las selbstverständlich das, was andere Größen vor ihm lasen (zum Beispiel die Imitatio Christi des Thomas von Kempen) – mehr noch: er schuf eine christliche Bibliothek mit Ausgaben der Bücher, die Menschen in der Kirche geprägt haben und die er als besonders empfehlenswert weitergeben wollte. So gelangen die wichtigen Ideen zu der breiten Bevölkerung.
Lesen, zur Lektüre empfehlen und intensiv studieren: Das sind Traditions- und Tradierungsmerkmale von Veränderungsprozessen der Kirche. Wer also Neues sucht, ist, so Reinert, gut darin beraten, einmal zu lesen, was schon vorher gedacht, geglaubt und gelebt wurde. Sicher nicht zufällig schließt Reinert, der Frömmigkeitstheologie-Pädagoge, mit folgendem Aufruf: «Ihr Studierenden, nehmt euch Zeit zum Lesen! Ihr Dozierenden, gebt ihnen Zeit zum Lesen. Ihr Kirchen, lasst ihnen Zeit zum Lesen!» Ein Wort, das nachhallt in einer Kirche voller Student:innen und Professor:innen.
Am Anfang und am Ende der Veranstaltung steht Klaviermusik von Anja Paul, einer Studentin der Sozialen Arbeit und Diakonie an der THR. Auch Musik hat, nota bene, mit Lesen, Weitergeben und Variieren zu tun, und sie steht nicht selten am Anfang dessen, was am Ende eine neue Zeit genannt werden wird.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Theologischen Hochschule Reutlingen.
DK
