Der Kurs vorsichtiger Öffnung wurde auch nach dem Ausscheiden von Richard Fehr aus dem Stammapostelamt 2005 von seinem Nachfolger Wilhelm Leber fortgesetzt. Wichtige Lehrveränderungen und Ergänzungen fanden statt, so zum Beispiel die Anerkennung der Taufe anderer christlicher Kirchen.

Innerhalb und außerhalb der Neuapostolischen Kirche stießen diese neuen Entwicklungen auch auf Misstrauen. In der etablierten Ökumene war die Meinung zu hören, es handele sich nur um ein taktisches Manöver der Neuapostolischen Kirche, um aus der „Sektenecke“ herauszukommen und sich in der Gesellschaft besser platzieren zu können, nicht aber um einen echten, theologisch fundierten Wandel. Vor Ort gab und gibt es dazu auf allen Seiten unterschiedliche positive und negative Erfahrungen.

Immerhin war Ende 2009 die Neuapostolische Kirche in sechs örtlichen Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen im Gaststatus vertreten, was vor zwei Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wäre. Auf verschiedenen Ebenen kamen theologische Gespräche in Gang. Dabei stellte sich als schwierig heraus, dass die Theologie der Neuapostolischen Kirche eine „Laientheologie“ war und verbindliche neuapostolische Lehrtexte als Gesprächsgrundlage fehlten. Denn die 1992 in letzter Ausgabe erschienenen „Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben“2 erwiesen sich angesichts der vor allem nach 2000 erfolgten Lehrveränderungen und Neuakzentuierungen als unbrauchbar für vertiefte theologische Gespräche.

Der Entschluss von Stammapostel Fehr, „eine systematische Darstellung der neuapostolischen Glaubenslehre“ erarbeiten zu lassen, war folgerichtig und notwendig. Es sollte ein „Grundlagenwerk“ sein.3 Seine Erarbeitung gestaltete sich offenbar kompliziert, Ende 2012 lag es vor und stieß innerhalb und außerhalb der Neuapostolischen Kirche auf weniger Interesse, als ursprünglich zu erwarten war. Das mag mit seinem Charakter als Kompromisspapier zusammen- hängen, versucht es doch das traditionelle, konservative Lager und die vorwärtsdrängenden liberalen Kreise der Neuapostolischen Weltkirche zusammenzuhalten und zu verbinden.

Hier sollen nur Aussagen des „Katechismus“ interessieren, die für die Ökumenefähigkeit und die Ökumenewilligkeit der Neuapostolischen Kirche von grundlegender theologischer Bedeutung sind.

Voraussetzung und Grundlage für Mitarbeit und Teilhabe an der Ökumene ist bekanntlich die 1948 in Amsterdam auf der ersten Sitzung des Ökumenischen Rates der Kirchen beschlossene und auf der dritten Vollversammlung 1961 in New York erweiterte Basisformel. Sie beginnt mit dem fundamentalen Satz: „Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen […].“ Andere christliche Gemeinschaften als Kirchen anzuerkennen ist also eine entscheiden- de theologische Grundvoraussetzung für die Aufnahme in den Ökumenischen Rat der Kirchen oder die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Der alte neuapostolische Katechismus vertrat in dieser Frage der Exklusivität eine eindeutige Position: „Die Neuapostolische Kirche ist die Kirche Jesu Christi“, sie ist „das wiederaufgerichtete Erlösungswerk des Herrn“.4 Der exklusive Heilsanspruch der Neuapostolischen Kirche und damit ihre Ökumeneunfähigkeit traten im Katechismus von 1992 noch klar und unbestreitbar zutage. Die entscheidende Wandlung erfolgte – vergleichbar mit dem veränderten Kirchenverständnis der römisch-katholischen Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil – im Katechismus von 2012.

Die Verfasser waren sich der ekklesiologischen Voraussetzungen für eine Mitarbeit in der Ökumene offenbar wohl bewusst. Die Basisformel des Ökumenischen Rates der Kirchen wird in einer Fußnote zitiert und im Text selbst indirekt interpretiert. Im zusammenfassenden „Extrakt“ heißt es: „Verbindende Elemente zwischen den einzelnen christlichen Kirchen sind die Taufe, das Bekenntnis zu Jesus Christus und der Glaube an ihn. Durch die Getauften, die ihres Glaubens leben, wird Kirche als Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe erfahr- bar. Insofern ist Kirche Christi auch in den Kirchen sichtbar, in denen Einheit, Heiligkeit, Allgemeinheit und Apostolizität auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Umfang vorhanden sind.“5

2 Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben, hg. von der Neu- apostolischen Kirche International, Frankfurt/M. 1992.
3 Katechismus der Neuapostolischen Kirche, hg. von der Neuapostolischen Kirche International, Frankfurt/M. 2012, Zum Geleit.
4 Fragen und Antworten 1992, aaO., 77. 
5 Katechismus 2012, aaO., 282.

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